Wer wäre besser geeignet als ein ehemaliger marokkanischer Nationalspieler, um den Erfolg der Atlas-Löwen in Katar zu analysieren? Tariq Chihab hat sich mit uns in einem Café in Casablanca verabredet und uns Antworten versprochen. Super-League-Fans werden den ehemaligen Spieler des FC Zürich, der Grasshoppers, Sion und Xamax vielleicht wiedererkannt haben. Heute ist er Sportdirektor des marokkanischen Erstligisten SCC Mohammedia, Fernsehberater und ein enger Vertrauter des aktuellen Nationaltrainers Walid Regragui, mit dem er einst zusammenspielte.
In seinem eleganten schwarzen Pullover ist Tariq Chihab immer noch fit wie ein Turnschuh. Hinter seiner umrandeten Brille verbergen sich vielleicht die Antworten auf die Fragen, die wir uns immer wieder stellen. Als er sich hinsetzt, gesteht der ehemalige Spieler, wie stolz er darauf ist, dass dieses Marokko, sein Marokko, dessen Trikot er bis zum Finale des Afrika-Cups getragen hat, vor den Augen der Welt glänzt.
Wir haben ihn gebeten, diesen riesigen Stolz beiseite zu schieben und den Erfolg dieser Mannschaft so kühl wie möglich zu sezieren. Er schaut sich die Spiele nicht in Cafés an, um nicht gestört zu werden.
Wir sind nach Casablanca gekommen, damit sie uns dies sagen können: Was ist das Geheimnis dieses Marokko?
Tariq Chihab: Die Nationalmannschaft hatte immer technisch begabte Fussballer, die eine starke physische Wirkung hatten, aber wir hatten zwei grosse Probleme: die Beziehungen zwischen den Spielern und der taktische Aspekt. Da die Spieler sehr ballverliebt waren, wurde der Taktik keine Bedeutung beigemessen. Das ist jetzt ganz anders: Die Taktik steht an erster Stelle. Man hat verstanden, dass man ohne sie nichts erreichen kann.
Der Schlüssel ist also Trainer Walid Regragui?
Taktisch gesehen stimmt es, dass er eine solide Mannschaft aufgebaut hat, mit der Verteidigung als Zement. In seiner Philosophie ist der Topstürmer der erste Verteidiger. Deshalb hat er zum Beispiel En-Nesyri ausgewählt. Die Spieler arbeiten als Block. Die Marokkaner bilden einen der kompaktesten Blöcke bei dieser WM, sie verteidigen alle auf einer Fläche von nur 15 mal 20 Meter. Sie bewegen sich gemeinsam nach vorne und zurück. Es ist ein gut organisierter Block in der Breite und in der Tiefe. Der Trainer ist auch sehr gut, wenn es darum geht, die Gegner per Video zu analysieren. Ich fand ihn gegen Kroatien ängstlich, aber ich habe ihm später eine Nachricht geschickt und ihm gesagt, dass er Recht hatte, als ich gesehen habe, wie die Kroaten Brasilien aus dem Turnier geworfen haben (lacht). Und er hat mir geantwortet.
Was hat er Ihnen gesagt?
«Ich möchte ein gutes Spiel machen und angreifen, aber wir haben nicht das Potenzial dazu! Ich nutze unsere Qualitäten.»
Dass die Taktik ein Vorteil ist, ist klar. Aber, es kann nicht nur Taktik sein, es muss noch etwas anderes geben ...
Walid ist ein intelligenter Mensch, der es verstanden hat, die Spieler zu motivieren und ein familiäres Klima zu schaffen, das für die Erzielung von Ergebnissen unerlässlich ist. Das sieht man an den Ersatzspielern: Selbst ein Spieler, der bei dieser Weltmeisterschaft keine einzige Minute gespielt hat, steht in den letzten 20 Minuten hinter der Linie, um seine Mitspieler anzuspornen. Jeder fühlt sich angesprochen. Ausserdem hat er die Beziehungen zwischen den Spielern verbessert, insbesondere zwischen den Marokkanern, die im Land aufgewachsen sind, und denen, die im Ausland geboren wurden
War das in der Vergangenheit ein Problem?
Ja, die Einheimischen und die Spieler aus der Diaspora sind in Kulturen aufgewachsen, die sich in einigen Punkten sehr unterscheiden, was manchmal Probleme mit der Verständigung und dem Zusammenleben bereitet hat. Es gab kleine Gruppen: Diejenigen, die aus Deutschland kamen, blieben unter sich, das Gleiche galt für die, die aus Belgien kamen. Einige Spieler sprachen nicht einmal Arabisch. Heute ist das zum Beispiel bei Hakimi der Fall (Red.: in Madrid geboren), der die Sprache nicht gut beherrscht. Aber er versucht es wenigstens. Das ist der Beweis dafür, dass Regraoui es geschafft hat, diesen Zusammenhalt zu schaffen.
Sie haben also ein eingespieltes und gut aufgestelltes Team. Aber man hat den Eindruck, dass da noch mehr ist, dass sie von einem Nationalstolz getragen werden.
Ja, dieser Stolz ist sehr wichtig.
In Katar fühlen sich die Marokkaner wie zu Hause. Ich hatte dieses Gefühl, als ich mit Marokko beim Afrika-Cup 2004 gespielt habe. Tausende deiner Fans im Stadion zu sehen, macht dich stolz und gibt dir Auftrieb. Du spielst für die Leute, die angereist sind.
Gibt es auch unsichtbare Faktoren bei diesem Erfolg? Dinge, die der Fernsehzuschauer nicht sieht?
Seit etwa zehn Jahren unternimmt der Verband grosse Anstrengungen im Bereich der Ausbildung und hat seine Arbeit strukturiert.
Denn an Geld mangelte es nicht, wohl aber an klaren Zielen. Es wurden Schulungen für Trainer und Generalmanager eingeführt und die Infrastruktur ausgebaut. Fouzi Lekjaa, der seit 2014 an der Spitze des Verbands steht, ist ein hervorragender Manager. Seit er im Amt ist, hat jeder Verein einen Rasenplatz, die Stadien wurden modernisiert, es gibt jetzt Krafträume und Trainingsplätze. Und das zahlt sich aus: Viele Stammspieler der Nationalmannschaft wurden im Land ausgebildet. Aber das ist noch nicht alles ...
Was gibt es sonst noch?
Im Jahr 2009 wurde die Königliche Akademie Mohammed VI. in Rabat gegründet. Sie hat Zweigstellen in allen Teilen des Landes und stellt die besten Jugendlichen ab 12 Jahren ein. Sie bildet sie im Rahmen eines Sportstudiensystems bis zum Alter von 21 Jahren aus und versucht, sie in diesem Alter zu europäischen Vereinen zu schicken, um sich dort zu bewähren, als eine Art Post-Training. Mindestens drei Spieler von Marokko bis Katar wurden dort ausgebildet.
Das ist alles schön und gut, aber ein Halbfinale bei einer Weltmeisterschaft kann man nicht ohne ein wesentliches Element erreichen: Talent.
Es stimmt, Taktik allein ist nicht genug! (lacht) Wir haben sehr schnelle Spieler, die sich bei Kontern nach vorne werfen, wie zum Beispiel Ziyech, Boufal und En-Nesyri. Und wir haben auch einen Bounou, einen hervorragenden Torwart! Ich denke, dass der Erfolg dieser Mannschaft wirklich ein Gesamtpaket ist. Für diese Weltmeisterschaft gilt: Jetzt oder nie!