Es ist der Tag des Aufbruchs. Die Schweizer flogen am Sonntagnachmittag von Samara nach St.Petersburg. Es ist der Ort, wo sie sich am Dienstag im WM-Achtelfinal gegen Schweden einen Eintrag in die Geschichtsbücher sichern wollen. Für die erste Viertelfinalteilnahme seit 1954.
Der Weg ist beschwerlich. Träumereien vom Halbfinal oder gar Final sind auch nach dem Aus von Spanien kaum hilfreich. Wer von den Spielern so denkt, verliert höchstens den Fokus. Viel mehr drängen sich vor dem Duell mit Schweden einige Fragen auf:
Die Liste ist lang. Und schrecklich. WM 2006: Schweiz – Ukraine, out im Penaltyschiessen. WM 2014: Schweiz – Argentinien, out nach Verlängerung. EM 2016: Schweiz – Polen, out im Penaltyschiessen. Immer im Achtelfinal.
Jetzt ist es wieder so weit. Jetzt wartet Schweden. Schweden? Die Fussball-Welt erstarrt nicht gerade in Ehrfurcht. Und wer auch immer von den Schweizern über diesen WM-Achtelfinal spricht, der erwähnt schnell einmal: Nein, nein, wir sind nicht traumatisiert. Eine andere Antwort wäre auch eine ziemliche Überraschung.
Die Schweizer sind beseelt davon, nachzuweisen, dass sie sich wirklich verändert haben. Dass sie als Team reifer sind als vor zwei Jahren. Bis anhin reden sie vor allem davon. Die Taten müssen nun folgen. Sie müssen zeigen, dass sich das chronische Versagen in den wichtigsten Momenten nicht im Kopf eingenistet hat. Ein Out gegen Schweden – der ewige Stillstand wäre kaum mehr zu leugnen.
Teams, die den Anspruch haben, zu den besten der Welt zu gehören, zeichnen sich durch verschiedene Faktoren aus. Es gibt tatsächlich einige Indizien, dass die Schweizer Träume berechtigt sind. Zum Beispiel der Torhüter. Einige Goalies sorgten an dieser WM schon für Lacher. Yann Sommer gehört nicht dazu. Im Gegenteil. Er ist an seiner ersten WM herausragend.
Fast jede Mannschaft gerät während eines jeden Spiels unter Druck, manchmal heftig. Wer den Schaden in Grenzen hält, bleibt am Leben. Die Schweiz hat gelernt, Widerstand zu leisten. Gerade die Erfahrungen gegen Spanien im Testspiel (1:1) und an der WM gegen Brasilien (1:1) sind nicht zu unterschätzen. Das gibt Energie und Selbstvertrauen. Über das betreffende Spiel hinaus
Wie ein Team mit einem Rückstand umgeht, sagt viel über dessen Stärke. Darum gibt es Grund zur Hoffnung. Die Schweiz ist mittlerweile derart von der eigenen Stärke überzeugt, dass sie auch nach einem Rückstand fähig ist, ruhig weiterzuspielen und zu reagieren. Das war gegen Serbien exemplarisch, als die Wende vom 0:1 zum 2:1 unter maximalem Druck gelang. Gegner Schweden fehlt eine solche positive Erfahrung. Zumindest an der WM. In einem Testspiel Ende März 2017 verwandelten die «Tre Kronor» gegen Portugal ein 0:2 in ein 3:2.
Brasilien hat Neymar. Frankreich hat Griezmann und Mbappé. Belgien hat Lukaku. England immerhin Kane. Und selbst Uruguay hat mit Cavani und Suarez einen Weltklassesturm. Die Schweiz hat Seferovic, Gavranovic und Drmic. Gewiss haben sie alle ihre Talente und lichten Momente. Aber Vergleichen mit den Weltbesten halten sie nicht stand. Dass die Schweden kein bisschen besser aufgestellt sind, kann momentan noch Trost sein. Dass Shaqiri die grosse Bühne mag, macht ebenfalls Hoffnung. Und vielleicht noch dies: Immerhin gab es jüngst Anzeichen, dass die Schweizer als Team effizienter sind als auch schon. Das bewies nicht zuletzt die bisherige WM. Sie brauchten für ihre fünf Tore nicht unzählige Chancen.
Das Bild wiederholt sich. Das Spiel beginnt – und die Schweiz ist gedanklich noch in der Garderobe. Schrecken und Panik wechselten sich gegen Brasilien, Serbien und Costa Rica ab. Das provoziert Fragen. Sind den Spielern die vielen Siege in den letzten 24 Monaten in den Kopf gestiegen? Obwohl einige davon gegen Kontrahenten wie Andorra, Färöer oder Lettland zustande gekommen sind? Schnell einmal landet man auch beim Trainer.
Wie kann es sein, dass innert wenigen Tagen mehrfach hintereinander der Start misslingt? Der Verdacht liegt nahe: Irgendetwas läuft in der Vorbereitung nicht optimal. Das Phänomen ist zudem nicht neu. Auch im EM-Achtelfinal gegen Polen brauchte die Schweiz eine Halbzeit, um in Schwung zu kommen. Bisher fand die Schweiz jeweils zurück ins Spiel. Aber lange kann das nicht mehr gut gehen.
Ändern lässt sich die Situation nicht mehr. Und die heisst: Mit Captain Lichtsteiner und Abwehrchef Schär fehlen zwei wichtige Mosaiksteine des Schweizer Erfolgs. Lichtsteiners Absenz schmerzt wegen seines unendlichen Siegeswillens und Biss. Schär wäre mit seiner Spielauslösung eine gute Waffe gegen den schwedischen Beton. Vor allem seine langen Bälle werden die Teamkollegen vermissen.
Ein Grund zur Sorge sind die Absenzen durchaus. Doch mit Michael Lang und Johan Djourou stehen Spieler bereit, die sich die grosse Bühne gewohnt sind. Djourou hat an der WM 2014 und der EM 2016 tadellos gespielt. Lang tut dies in der Champions League seit Jahren. Und darum können sie am Ende auch ein Grund dafür sein, dass die Schweiz ihre Geschichte in den Achtelfinals endlich neu schreibt.