Mai 2002. Senegal steht zum ersten Mal überhaupt an einer WM-Endrunde. Zum Auftakt wartet auf den Exoten gleich Titelverteidiger Frankreich. Es folgt eine der grössten Überraschungen des Fussballs.
«Die Löwen von Teranga», wie man Senegals Fussballnati nennt, bezwingen den haushohen Favoriten mit 1:0 und stossen danach bis in den Viertelfinal vor. Trainer Bruno Metsu wird gefeiert. Sein Captain beim WM-Auftakt: Der 26-jährige Aliou Cissé.
Juni 2018. 16 Jahre nach dem Coup an der WM in Japan und Südkorea steht Senegal wieder an einer WM-Endrunde. Im letzten Spiel der ersten Runde treffen die Senegalesen auf Gruppenfavorit Polen. Dank eines mutigen Auftritts besiegen die Afrikaner Polen mit 2:1. Bekanntester Name der Equipe: Liverpool-Star und Nati-Captain Sadio Mané. Sein Trainer: der 42-jährige Aliou Cissé.
Bis Aliou Cissé jedoch als Nationaltrainer Senegals seine Hand stolz auf seine Brust drücken und derart erfolgreich in die WM starten kann, muss der Mann aus Ziguinchor im Südosten Senegals einiges durchmachen.
Kurz nach der WM 2002 verliert der Spieler von Birmingham City mehr als ein Dutzend engster Familienmitglieder. Bei der Joola-Katastrophe vor der Küste Gambias geht eine Fähre mit rund 1200 Menschen unter – darunter Cissés Liebsten. Der Mittelfeldspieler lässt sich jedoch nicht unterkriegen, Cissé lernt, sich auch unter harten Bedingungen durchzusetzen, was seinen aggressiven Spielstil bis zum Schluss seiner Karriere als Spieler in Europas Topligen prägt.
2013 der nächste Schickssalschlag. Bruno Metsu, Senegals Trainer von 2002, verstirbt an Krebs. Metsu hat grossen Anteil daran, dass 16 Jahre nach seinem Exploit Senegal wieder an einer WM steht. Das weiss auch sein späterer Nachfolger Cissé, der im Vorfeld der WM 2018 sagt: «Heute sind meine Gedanken bei Bruno. Er schaut auf uns, seine Energie wird uns tragen.»
An der Weltmeisterschaft in Russland steht Cissé nun als einer von zwei Afrikanern an der Seitenlinie. Der Mann mit den langen Dreadlocks ist der Exot unter den WM-Trainern. Ein Exot, der jedoch eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der Fussballszene des westafrikanischen Staates darstellt.
Cissé gilt als Aushängeschild der neuen afrikanischen Trainergeneration, die es vor einigen Jahren noch gar nicht gegeben hat. Dass beim Afrika-Cup 2017 gleich vier von 16 Trainern Einheimische waren, war vor wenigen Jahren noch undenkbar.
Für Cissé ist jedoch klar, dass europäische Trainer bei afrikanischen Teams – wie beispielsweise Gernot Rohr bei Nigeria – keine Zukunft haben. «Ich weiss ganz genau, was der Senegal benötigt», meint er bei seinem Amtsantritt 2015 – und holt mit Tony Sylva, Omar Daf und Lamine Diatta gleich drei Teamkollegen von 2002 mit ins Boot. «Wir wissen doch am besten, wie unsere Landsleute ticken.»
Im Vorfeld der WM in Russland unterstreicht der engagierte und ambitionierte Trainer Senegals seine Meinung: «Der afrikanische Fussball hat sich entwickelt. Wir glauben an unseren Fussball, wir haben keine Komplexe und wir haben grossartige Spieler. Was es jetzt noch braucht, um unseren Fussball weiterzubringen, sind afrikanische Coaches.»
Kein Wunder blickt der ehemalige Spieler von Lille, Paris Saint Germain und Birmingham City positiv in die Zukunft. «Der afrikanische Kontinent ist voller Qualität. Mannschaften wie Senegal oder Nigeria werden irgendwann in der Lage sein, Weltmeister zu werden», sagt Cissé noch vor dem WM-Auftakt gegen Polen.
Aliou Cissé: Easily the most GIFable coach at this World Cup.pic.twitter.com/SpcDA3dSYo
— Grant Wahl (@GrantWahl) 19. Juni 2018
Mit dem Sieg gegen Polen hat Senegals empathischer Trainer den ersten Schritt in diese Richtung gemacht. Wie vor 16 Jahren liegt die Achtelfinalqualifikation im Bereich des Möglichen. Einziger Unterschied: Aliou Cissé gibt sich mit solchen Achtungserfolgen nicht zufrieden. Er will Senegal an die Weltspitze führen. Mit oder ohne Hipsterbrille und langen Dreadlocks.