Kaum ein Tag vergeht ohne neue Schreckensmeldungen über die Dschihadisten des Islamischen Staats (IS). Sie lassen sich nur schwer überprüfen, manches mag aus Propagandagründen übertrieben sein – das erste Opfer eines Krieges ist bekanntlich die Wahrheit. Trotzdem gibt es genug Belege für die enorme Brutalität der Steinzeitislamisten. Für US-Präsident Barack Obama Grund genug, seine Zurückhaltung abzulegen und am letzten Freitag Luftangriffe auf den IS anzuordnen.
Diese scheinen den Vormarsch zumindest im Kurdengebiet gestoppt zu haben. Gleichzeitig haben sie eine mehr als unerwünschte Nebenwirkung zur Folge: Eine deutlich erhöhte Gefahr von Terroranschlägen in Europa und den USA. So zumindest äussern sich westliche Antiterror-Fachleute gegenüber CNN. Bereits hätten IS-Anhänger auf sozialen Netzwerken wie Twitter zu Vergeltungsschlägen gegen den Westen und besonders die USA aufgerufen.
Der IS hat derartige Angriffe nie zur Priorität erklärt. Er ist in erster Linie damit beschäftigt, sein «Kalifat» zu errichten. Dennoch existiert in den westlichen Hauptstädten das Albtraumszenario einer Terrorwelle, die vom IS losgetreten wird, mit Hilfe seiner ausländischen Kämpfer. Gegen 1000 Europäer sollen sich den Extremisten angeschlossen haben, ausserdem Dutzende Amerikaner. Sie könnten im Bau raffinierter Bomben ausgebildet werden. US-Justizminister Eric Holder bezeichnete diese Perspektive als «furchterregendste seit meinem Amtsantritt».
Bislang gibt es laut CNN wenig Hinweise, dass der IS ein Trainingsprogramm für Anschläge im Westen aufgezogen hat. Es besteht jedoch die Gefahr, dass bereits heimgekehrte Kämpfer die Dinge in die eigene Hand nehmen. Wie Mehdi Nemmouche, ein Franzose algerischer Abstammung, der ein Jahr in Syrien gekämpft und im Mai vier Menschen im Jüdischen Museum in Brüssel getötet hat. Für Europas Terrorbekämpfer ist diese Bedrohung besonders akut.
Zwar kenne man die meisten Syrien-Kämpfer. So befand sich auch Nemmouche auf einer Watchlist. Doch eine umfassende Überwachung sei aus Kostengründen nur in seltenen Fällen möglich. Ausserdem gibt es ein weiteres Schreckensszenario: Attentate von «einsamen Wölfen» im Stil des Anschlags auf den Boston Marathon 2013. Es sind Leute, die sich im Internet radikalisieren und für den IS begeistern lassen, der sich durch seinen Vormarsch in Irak und Syrien ein «Winner-Image» zulegen konnte.
Dies ist ein wesentlicher Unterschied zum Terrornetzwerk Al Kaida. Während dieses ein Kalifat zum Fernziel erklärt hat, «setzt der IS die Idee einfach um», erklärte Aaron Zelin vom Institut für Nahostpolitik in Washington dem Wall Street Journal. Al Kaida funktioniert wie eine terroristische Organisation, der IS dagegen wie eine Armee. In den eroberten Gebieten richtet er staatliche Strukturen ein. Und während Al Kaida auf Spenden angewiesen ist, finanziert sich der IS dank Ölschmuggel und Bankraub weitgehend selber.
Dabei war der IS ursprünglich der irakische Ableger von Al Kaida, er wurde nach dem Einmarsch der Amerikaner 2003 vom Jordanier Abu Mussab al-Sarkawi gegründet. Er starb 2006 bei einem US-Luftangriff. Unter dem heutigen Führer Abu Bakr al-Baghdadi kam es zum Bruch. Dieser wollte letztes Jahr seine Organisation mit der Al-Nusra-Front, dem syrischen Al-Kaida-Ableger fusionieren, und stiess damit bei Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri auf Ablehnung.
Baghdadi foutierte sich um dessen Urteil. Dies verdeutlicht den Niedergang von Al Kaida unter Sawahiri. Der ägyptische Arzt kann seinen Vorgänger, den charismatischen Osama bin Laden, in keiner Weise ersetzen. Die Differenzen zwischen den Hardcore-Islamisten könnten durch die Angriffe der US-«Kreuzritter» allerdings in den Hintergrund rücken, fürchten europäische Experten.
Dabei sollte ein Punkt nicht vergessen werden: Die Opfer von Al Kaida und IS sind zum Grossteil nicht Westler, arabische Christen oder Jesiden – sondern Muslime.