Ein Junge rennt durch die staubigen Strassen einer zerbombten Stadt, links und rechts von ihm schlagen Kugeln ein, Staub wirbelt auf. Dann stoppt er abrupt, der Oberkörper wird zurückgeworfen, der Junge sinkt auf die Knie, bleibt liegen. Ist er tot? Nein, nach einigen Sekunden steht er wieder auf, rennt weiter, ein Mädchen erscheint im Bild, der Junge nimmt es an der Hand, es sträubt sich, er insistiert, zieht es ruckartig hinter einem Auto hervor und läuft mit ihm aus dem Kugelhagel. Jubel, Allahu-Akbar-Rufe der Männer hinter der Kamera.
OMG MY HEART!! WHO'S GONNA GIVE HIM THE MEDAL?
SYRIAN HERO BOY rescue girl in shootout الطفل السوري البطل: http://t.co/9L2hb8IlaO
— يُوْسُف يَاسِين (@phantasmiclife) 12. November 2014
Seit Montag geht das Video viral, eine syrische Oppositionsgruppe, «Shaam News Network», hat es auf ihren Videokanal hochgeladen, betitelt mit «Heldenhafter Junge rettet Mädchen aus dem Kugelhagel». Das Video wurde alleine auf YouTube über 1,2 Millionen Mal angeklickt. Die Reaktionen der Medien blieben nicht aus: Vom «Independent», über «ABC News» bis zu «20 Minuten» jubelten die Online-Redaktoren über dieses eindrückliche Zeugnis von Heldenmut inmitten des Krieges und über die Heimtücke der gesichtslosen Scharfschützen, die keine Skrupel haben, auch die Schwächsten der Schwachen ins Visier zu nehmen.
Doch wie viel Heldenmut steckt tatsächlich in dem Video? Ist es tatsächlich echt oder handelt es sich um ein gut inszeniertes Propaganda-Filmchen einer Organisation? Die Bilder werfen Fragen auf, die zumindest stutzig machen:
Zu Beginn hält die Kamera auf einen Hauseingang. Man hört einige Leute mit gedämpften Stimmen miteinander reden. Die Kamera wackelt, dann rennt ein Mann aus einem Torbogen durch die Öffnung einer Betonmauer und hält – von ihm aus gesehen – nach links. Begleitet von Alahu-Akbar Rufen entschwindet der Mann aus dem Bild, während links an einem Mauervorsprung der Einschlag einer Kugel zu sehen ist. Die Scharfschützen müssen sich also in einem Strassenzug verschanzt haben, der im Rücken der filmenden Personen verläuft. Das wirft die Frage auf, wieso sich die Personen hinter der Kamera nicht auch in der Schusslinie der Gewehrschützen befinden.
Erst nach 30 Sekunden schwenkt die Kamera nach links, wo ein Junge anscheinend bis jetzt regungslos am Boden lag. Mit dem Rücken zur Kamera stützt sich der Junge auf seine Ellbogen, schaut nach links und richtet sich anschliessend auf. Kaum ist er losgerannt – hin zum rechten Bildausschnitt – sind auch schon die Gewehrschüsse zu hören. Ein Islamwissenschafter hat für watson die Gespräche übersetzt. Er merkt an, dass zu Beginn der Aufnahmen gefragt wird: "Siehst du etwas?", "Seht ihr etwas?". Die Leute hinter der Kamera scheinen nur das zu sehen, was der Zuschauer auch sieht. «Es wirkt so, als deuten diese Fragen schon auf die Überraschungen, dass der Junge dann doch noch quicklebendig ist und sich hinter dem Auto ein Mädchen versteckt. Dramaturgisch geschickt – das Ende bietet die Auflösung aller Fragen.»
Bei Sekunde 36 ereignet sich der dramatische Höhepunkt des Filmchens. Ein Gewehrschuss fällt, eine Staubwolke manifestiert sich auf Brusthöhe des Jungen, in Rücklage läuft er noch einige Schritte, bevor er zu Boden geht – vermeintlich für immer. Merkwürdigerweise ist kein Einschlag am Boden auszumachen, der den Staub hätte aufwerfen können. Auch in der Verlangsamung lässt sich nicht ausmachen, wo die Kugel eingeschlagen ist. Spekulationen im Netz reichen von einer mit Sand gefüllten Kapsel, die zur Explosion gebracht wird, bis hin zu nachträglichen Bearbeitungen durch Software-Programme.
Während der gesamten 66 Sekunden des Films kommentieren die Männer hinter der Kamera das Geschehen. Sie fiebern mit den Personen mit, die im Bildausschnitt zu sehen sind und anscheinend dem Tod ins Auge blicken. Die Stimmen haben allerdings einen seltsam hallenden Klang, als ob sie in einem leeren, geschlossenen Raum aufgenommen worden wären.
Shaam News Network ist eine Medienstelle, ähnlich der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die über die Revolution in Syrien berichtet. Laut eigenen Angaben ist das Netzwerk mit keinen Gruppen oder Parteien verbandelt. SNN existiert seit Februar 2011 und ist in Damaskus stationiert. Über die eigene Website, Facebook, Twitter, und einen YouTube-Kanal berichtet Shaam in erster Linie über Menschenrechtsverletzungen des Assad-Regime. Das Netzwerk greift dabei auf Video-Aufnahmen, Fotos und Aussagen von Zivilisten zurück.
#SNN | #Syria
#SNHR: Two female children killed and others in Damascus countryside - Doma wounded by the Syrian regime warplanes.
— Shaam News Network (@ShaamNewsEn) 11. November 2014
SNN ist längst nicht die einzige Organisation, die YouTube-Videos benutzt, um auf die Situation in Syrien aufmerksam zu machen. Von regierungstreuen Propaganda-Medien, über säkular-oppositionelle Organisationen bis hin zu Islamisten unterhalten praktisch alle im Bürgerkrieg involvierten Parteien YouTube-Kanäle. Die Video-Plattform hat deshalb in Zusammenarbeit mit dem Social-Media-Unternehmen Storyful zwei Kanäle gegründet – Citizentube und Human Rights Channel – um kritische Videoinhalte besser verifizieren zu können. In der Suchfunktion erscheint – Stand Mittwoch Nachmittag – bei diesen beiden Kanälen nichts zu dem betreffenden Video.
Mit der Frage nach der Authentizität konfrontiert, antwortete das «Shaam News Network» gegenüber watson in einer Email, dass man daran sei, die Bilder zu verifizieren. Zugespielt worden seien die Aufnahmen von einem der Macher des Videos. Sobald man mehr Informationen habe, sollen diese der Öffentlichkeit präsentiert werden.
Laut Telegraph wurden die Aufnahmen höchstwahrscheinlich in Jabroud, einer syrischen Stadt nahe der libanesischen Grenze getätigt, Quellen für diese Vermutung werden nicht genannt.
Der von watson angefragte Islamwissenschafter schätzt die Aufnahmen als echt ein. Er gibt allerdings zu bedenken, dass es sich auch um ältere Aufnahmen handeln könnte, die bloss neu hochgeladen oder verlinkt wurden.
Letztendlich lässt es sich nicht bestätigen, ob es sich bei dem vorliegenden Video um echte Szenen des Bürgerkriegs in Syrien handelt, die die eklatanten Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, oder ob es das Werk gewiefter Fälscher ist, die mit den Aufnahmen die Unmenschlichkeit gegnerischer Gruppierungen darstellen und aus dem emotional berührenden Machwerk Kapital schlagen wollen.
Belege, dass im syrischen Bürgerkrieg Menschenrechte mit Füssen getreten werden, und insbesondere die zwischen die Fronten geratene Zivilbevölkerung unter den Auseinandersetzungen zu leiden hat, gibt es zuhauf. Bekannt ist auch, dass in diesem Konflikt verschiedene Seiten verschiedene Interessen haben und dabei um Aufmerksamkeit buhlen – mit allen Mitteln.