Kenneth Rogoff ist als Co-Autor des Buches «This Time Is Different» weltberühmt geworden. Darin zeigt er auf, wie immer gleiche Fehlanreize regelmässig zu Finanzkrisen führen.
Doch Rogoff befasst sich nicht nur mit harten Fakten, sondern auch mit den «weichen» Zusammenhängen von Ökonomie und Lebensstil. So sieht er beispielsweise Parallelen zwischen dem wirtschaftlichen Verhalten der Menschen und ihrer Gesundheit. Sowohl kollabierende Finanzmärkte als auch grassierende Fettleibigkeit sind für ihn Ausdruck einer offensichtlichen Fehlentwicklung der Gesellschaft. Rogoff spricht deshalb von einem «Herzinfarkt-Kapitalismus».
«Stark verarbeitete Lebensmittel auf Maisbasis mit jeder Menge chemischer Zusätze sind als Hauptverursacher von Gewichtszunahmen bekannt», stellt er fest, «aber aus der herkömmlichen Perspektive der Wachstumsbeiträge handelt es sich dabei um eine grossartige Sache.»
Von dieser «guten Sache» scheinen auf den ersten Blick alle zu profitieren, wie Rogoff ironisch schildert:
«Der Herzinfarkt-Kapitalismus ist eine fantastische Sache für den Aktienmarkt», lautet Rogoffs zynisches Fazit. «Ausserdem sind stark verarbeitete Lebensmittel gut für die Situation am Arbeitsmarkt.»
Dumm bloss, dass eines auf der Strecke bleibt: die Gesundheit des Menschen.
Wenn Rogoff von «stark verarbeiteten Lebensmitteln auf Maisbasis» spricht, dann beleuchtet er die einzigartige Stellung, welche dieses stärkehaltige Getreide heute in der Ernährung einnimmt. Etwa ein Viertel aller in den Supermärkten angebotenen Lebensmittelprodukte enthält Mais. Dazu gehören etwa Frühstücksflocken und Süssgetränke, aber vor allem auch Fleisch. Hühner, Schweine und Rinder fressen – wenn sie nicht das Glück haben, auf einer Biofarm gross gezogen zu werden – vorwiegend Kraftfutter auf Maisbasis.
Mais ist die billigste Art, Kalorien zu produzieren. Dank Düngemitteln aus Erdöl versorgt uns die industrielle Landwirtschaft mit dem günstigsten Lebensmittel aller Zeiten. Doch statt zu einem Segen wird dies zunehmend zu einem Fluch.
Mit billigen Kalorien allein macht man nämlich keine guten Geschäfte. Nicht von ungefähr kursiert in der Lebensmittelbranche folgendes Bonmot: «Mit Nahrungsmitteln kann man sehr viel Geld verdienen, solange man nicht versucht, sie auf natürliche Art wachsen zu lassen.»
Würde die Lebensmittelindustrie vorwiegend Frischgemüse und Getreide verkaufen, dann gäbe es weder Nestlé noch Coca-Cola. Das Getreide für unser Frühstücksmüesli kostet ein paar Rappen; Süssgetränke bestehen aus Wasser, Zucker und ein paar Geschmacksstoffen. Und Kartoffeln sind wirtschaftlich erst als Chips oder Pommes interessant.
Die New Yorker Ernährungswissenschaftlerin Marion Nestle (keine Verwandtschaft mit dem Schweizer Lebensmittelkonzern) zeigt in ihrem Buch «Food Politics» auf, dass die betriebswirtschaftliche Logik die Nahrungsmittelkonzerne geradezu zwingt, uns billige Kalorien in veredelter Form aufzudrängen. «Um unter diesen Bedingungen die Verkäufe zu erhöhen, machen Lebensmittelkonzerne Druck bei Regierungsstellen, schmieden Allianzen mit Gesundheitsberufen, bewerben Kinder, verkaufen Junkfood als Gesundheitsnahrung und sorgen dafür, dass Gesetze verabschiedet werden, die nicht mehr der Volksgesundheit dienen, sondern den Interessen der Konzerne», schreibt Nestle.
Inzwischen hat das Missverhältnis von Angebot und Nachfrage groteske Ausmasse angenommen. In den reichen Ländern werden fast doppelt so viele Kalorien angeboten, wie die Menschen täglich benötigen würden. Wen wundert es also, dass fast die Hälfte unserer Nahrungsmittel im Abfall landet – und dass wir immer dicker werden?
Vorgefertigte Lebensmittel haben unser Verhältnis zur Nahrung verändert. Gegessen wurde einst, was auf den Tisch kam, gekocht von der Mutter, die selbstverständlich wusste, was gut für uns war. Heute ist Essen bedrohlich geworden, nicht nur für magersüchtige Mädchen.
Wir alle diskutieren inzwischen darüber, was wir verzehren sollen und was nicht. Dabei geht es weniger um den Genuss als ums Dogma. So wie sich einst die scholastischen Kirchenväter darüber stritten, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz hätten, werden sich die Ernährungswissenschaftler nicht einig, ob wir nun zu viele oder einfach die falschen Kalorien essen.
Der US-Journalist Michael Pollan hat dies in seinem Buch «Lebensmittel» trefflich formuliert: «Wir sind eine bemerkenswert ungesunde Bevölkerung geworden, die besessen ist von Ernährung, Diäten und der Vorstellung von gesundem Essen.»
In der 24-Stunden-Gesellschaft verbinden sich Lebensstil und Ernährung auf fatale Weise. Der moderne Mensch bewegt sich meist zu wenig. Dafür tut er es rund um die Uhr und rund um den Globus. Das hat zur Folge, dass er unregelmässig isst und zu wenig schläft.
Für den Körper ist das eine Qual, denn biologisch gesehen ist der Mensch ein äusserst konservatives Wesen, das Konstanz über alles schätzt. Darum sind Nonnen die Menschengruppe mit der höchsten Lebenserwartung in der modernen Welt. Sie haben kaum Laster wie Rauchen und Trinken, und sie haben einen streng geregelten Tagesablauf.
Der typische Vertreter der 24-Stunden-Gesellschaft hingegen überfordert seinen Körper permanent. Bei ihm kommen verschiedenste Formen von ungesundem Stress zusammen und gehen unheilige Allianzen ein. So gibt es beispielsweise zwischen Schlafmangel und unregelmässigem Essverhalten einen empirisch belegten, signifikanten Zusammenhang.
Wer zu wenig schläft, verzehrt häufiger Convenience Food. Er isst in unregelmässigen Abständen oder vor dem Computer oder TV-Bildschirm. Diese Kombination fördert die beiden Volkskrankheiten unserer Zeit: Übergewicht und Depressionen.
Angesichts der explodierenden Kosten ist es nicht mehr bloss eine moralische, sondern auch eine wirtschaftliche Pflicht geworden, den Herzinfarkt-Kapitalismus zu zähmen. Zu diesem Schluss kommt der grundsätzlich sehr marktwirtschaftlich denkende Ökonom Rogoff.
Aber wie?
Derzeit will niemand die Verantwortung für die Schäden einer unsinnigen Ernährung übernehmen. «Die Nahrungsmittelhersteller haben wenig Anreize, die Kosten für die von ihnen verursachten Umweltschäden zu internalisieren», stellt Rogoff fest. «Ebenso wenig bestehen für Verbraucher Anreize, die Gesundheitskosten aufgrund ihrer Ernährungsweise zu internalisieren.»
Mit Gesetzen und Regulierungen lässt sich wenig ausrichten. Mehr Transparenz hingegen wäre wirksam und liesse sich bestens mit dem Markt vereinbaren. Denkbar wäre ein Informationssystem mit drei Punkten: Grün für gesund, gelb für soso, und Rot für Hände weg. «Man könnte sicher ein gesünderes Gleichgewicht erreichen, indem man die Öffentlichkeit besser informiert, so dass die Menschen fundiertere Konsum- und Politikentscheidungen treffen könnten», stellt Rogoff fest.
So einleuchtend dieser Vorschlag ist, so unmöglich ist es, ihn in die Praxis umzusetzen. Die Nahrungsmittellobby im Verbund mit den industriellen Bauern hat bisher alle Bemühungen in diese Richtung erfolgreich verhindert – und wird es wohl weiterhin tun.