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Gesellschaft & Politik

Lieber Herr Tilgner, wer wird uns nach Ihrem Abgang den Nahen Osten erklären?

Langjähriger Korrespondent geht in pension

Lieber Herr Tilgner, wer wird uns nach Ihrem Abgang den Nahen Osten erklären?

Über 30 Jahre berichtete Ulrich Tilgner aus den Krisen- und Kriegsgebieten im Orient. Ende Jahr geht er in Pension. Mit watson sprach der 66-Jährige über was war, ist und noch werden kann.
08.02.2014, 21:5724.06.2014, 09:36
Kian Ramezani
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Ende Jahr ist Schluss. Worauf freuen Sie sich am meisten im Hinblick auf Ihre Pensionierung?
Ulrich Tilgner: Mehr Zeit für mich zu haben, die vielen angefangenen Bücher zu Ende zu lesen, im eigenen Bett zu schlafen. Auch das viele Reisen werde ich nicht vermissen.

Soldaten werden gegen Ende ihres Einsatzes zunehmend nervös. Sie sind bald ein letztes Mal in einem Krisengebiet unterwegs. Plagen Sie ähnliche Sorgen?
Im Unterschied zu einem Soldaten, der ein-, zweimal in einer Kriegsregion stationiert ist, bewege ich mich dort seit Jahrzehnten. Ich weiss, ich fahre dann und dann los und komme dann und dann zurück. Ich erstelle einen Plan, mit wem ich spreche, konzentriere mich voll darauf und lasse andere Sachen nicht mehr an mich heran. Da hat Nervosität keinen Platz.

Nach über 30 Jahren als Korrespondent kehren Sie dem Nahen Osten den Rücken. Was stimmt Sie hoffnungsvoll?
In der Region ist alles ins Rutschen geraten. Das haben wir im Arabischen Frühling gesehen und wir sehen es jetzt am Beispiel dieser wahnsinnigen Brutalität in Syrien. Die Antwort der Herrschenden auf die Aufstände war der Bürgerkrieg. Der wird von verschiedenen Seiten finanziert und angeheizt. Doch glaube ich, dass die Menschen diese Art herumgestossen zu werden, langfristig nicht akzeptieren. Die junge Generation, die in all diesen Staaten in der Mehrzahl ist, wird sich ihre Zukunft nicht nehmen lassen. Ob es fünf oder zehn oder zwanzig Jahre dauert, kann ich nicht sagen. Aber ich bin zuversichtlich.

Bei den afghanischen Opiumbauern 

Video: Youtube/ Ulrich Tilgner
Zur Person
Ulrich Tilgner (geboren 1948 in Bremen) ist Korrespondent des Schweizer Fernsehens und berichtet seit den 1980er Jahren aus dem Orient. Tilgner hat in Freiburg und Tübingen Kulturwissenschaften, Politik und Wirtschaftsgeschichte studiert. Nach der Islamischen Revolution war er in Teheran als Korrespondent akkreditiert, von 1985 bis 2000 unterhielt er ein Büro in Amman/Jordanien und von 2002 bis 2008 leitete er das ZDF-Büro in Teheran.
Sein Berichtsgebiet umfasst Irak, Iran und Afghanistan. 

Was stimmt sie pessimistisch?
Die demokratische Opposition wurde vom Westen nie wirklich gefördert. Die ägyptischen Muslimbrüder haben in ihrer einjährigen Herrschaft vom Westen weit weniger Finanzhilfe erhalten als die Putschisten bereits am ersten Tag von den reichen Golfstaaten. Es stimmt mich traurig, dass der Westen immer nur über Demokratie redet, aber zu deren Schaffung effektiv nichts beiträgt.

Welcher Mensch hat Sie in Ihrer Karriere am meisten beeindruckt?
Da gibt es verschiedene. Wer mich geradezu verfolgt, ist ein irakischer Kurde, den ich an einem Kontrollposten traf, als Saddam Hussein nach Ende des Golfkriegs 1991 seine Offensive gegen die Kurden startete. Da sass er, etwa 80 Jahre alt, und ich fragte ihn: «Was werden Sie tun, Sie haben doch keine Chance gegen die Truppen Saddams?» Er sagte: «Wir werden kämpfen, und wenn wir nicht standhalten können, dann laufen wir weg.» Genau das haben dann Millionen Kurden gemacht. Aber sie kamen zurück und heute haben sie de facto einen autonomen Staat im Nordirak.

Bild: KEYSTONE

Und von den Politikern?
Der iranische Präsident Mohammad Chatami hat mich damals (Amtszeit 1997 bis 2005, Anm. d. Red.) sehr beeindruckt, aber er wurde international allein gelassen. Dann denke ich an die afghanische Frauenrechtlerin Sima Samar, die 2009 fast anstelle von Obama den Friedensnobelpreis bekommen hätte.

Das wäre im Nachhinein die bessere Wahl gewesen.
In der Tat. Es gibt immer wieder Persönlichkeiten in der Region, die etwas wagen. Leider scheitern die meisten von ihnen.

Die Wirkung der Sanktionen

Video: Youtube/ Ulrich Tilgner

Wer hat Sie am meisten enttäuscht?
Ehud Barak. Er hatte die Chance, die Friedenspolitik des ermordeten Jitzchak Rabins zu Ende zu führen. Das versäumte er, auch als er später selbst israelischer Premierminister wurde.

Wen hätten Sie gerne noch interviewt?
Den iranischen Präsidenten Ruhani. Das ist mir auch fast gelungen. Am Schluss scheitert es jeweils an den vielen Personen, die dazwischen stehen. Der Mann hat sich mit der Aussöhnung mit dem Westen eine grosse Aufgabe gestellt. Ich hätte ihn gerne gefragt, ob er daran wirklich glaubt, nicht zuletzt angesichts der Hardliner daheim, die bereits an seinem Stuhl sägen.

Welches Interview hätten Sie im Nachhinein lieber gelassen?
Es gab da ein Interview mit Benjamin Netanjahu, als er 1996 als Kandidat des Likud Premierminister werden wollte. Er ist ja ein ausgebuffter Medienprofi. Ich gab ihm 20 Sekunden für eine Antwort und er brach nach 12 Sekunden ab. Dann formulierte er eine neue, sehr harte Antwort. Anschliessend lud er mich auf einen Kaffee ein, obwohl er laut ursprünglicher Aussage keine Zeit hatte. Da sagte er, er werde sich an alle internationalen Abkommen halten, die seine Vorgänger ausgehandelt hatten.

«Es ist nicht schön, als Journalist instrumentalisiert zu werden.»

So weit so gut.
Ja, ich sagte zu meiner Frau, die dabei war: «Das ist interessant, dieser Mann tritt hart auf, ist aber in Wirklichkeit soft.» Sie erwiderte: «Der hat dich aber schön reingelegt, er gibt eine harte Antwort und du sollst berichten, dass er in Wirklichkeit gar nicht so ist.» Das hätte ich voraussehen und meine Frage entsprechend anders stellen müssen. Es ist nicht schön, als Journalist instrumentalisiert zu werden.

Ich nenne Ihnen fünf Szenarien. Sie sagen mir, welches Sie noch erleben werden:
1. Israel und die Palästinenser schliessen Frieden
2. USA und Iran versöhnen sich
3. Israel und Iran versöhnen sich
4. In Afghanistan kehrt Frieden und Stabilität ein
5. Saudi-Arabien erlaubt den Frauen das Autofahren

4 und 5 werde ich noch erleben, 2 hoffe ich, 3 wohl kaum und 1 sicher nicht.

Bild: Elisabeth Stimming

Sie haben einmal gesagt, dass man nur glaubwürdig über den Nahen Osten berichten kann, wenn man selbst vor Ort ist. Was halten Sie von all den Experten, die das aus Berlin und Zürich versuchen?
Davon halte ich nicht viel. Ich war gerade wieder in Afghanistan und musste meine Ansichten komplett revidieren, nachdem ich mit vier, fünf Leuten gesprochen hatte. Den Puls eines Landes spürt man aus der Ferne nicht. Ein Beispiel: Im Iran ist es völlig klar, dass die Währung abgewertet werden muss, damit die Regierung genug Devisen für innere Massnahmen hat. Die Bevölkerung wird hingegen grossen Druck ausüben, dass der Rial stabil bleibt, damit sie sich mehr ausländische Konsumgüter leisten kann. Das ist ein zentraler Faktor der iranischen Politik, den ich nur fühle, wenn ich vor Ort bin.

Bei der irakischen Armee

Video: Youtube/ Ulrich Tilgner

Gibt es weitere Beispiele?
Nehmen Sie Afghanistan. Man denkt Präsident Hamid Karsai ist verrückt, weil er das Sicherheitsabkommen mit den USA nicht unterschreibt. Aus innenpolitischen Gründen ist das gar nicht so dumm. Die Mehrheit der Afghanen will das Abkommen nicht. Statt als Ausverkäufer der nationalen Interessen dazustehen, überlässt er die Entscheidung seinem Nachfolger. Auch das begreifen Sie nur, wenn Sie selbst in Afghanistan sind.

Sie sind deutscher Staatsbürger. Was halten Sie von Frau Merkels Nahostpolitik?
Das klare Bekenntnis zur Existenz Israels, das sie immer wieder formuliert, finde ich gut. Das muss ein Grundpfeiler deutscher Aussenpolitik sein. Schade finde ich, dass sie zu wenig auf die Schaffung eines palästinensischen Staats drängt. Frau Merkel agiert diesbezüglich einseitig, indem sie immer nur das Existenzrecht Israels betont, nicht aber das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat.

Ist es angesichts der deutschen Geschichte realistisch, mit der israelischen Regierung auf Konfrontationskurs zu gehen?
Das ist möglich und wird von der israelischen Opposition auch erhofft. Klar wird das Existenzrecht Israels vor dem Hintergrund des Holocausts immer Vorrang haben. Trotzdem müsste mehr drinliegen als nur Lippenbekenntnisse für einen palästinensischen Staat.

Erwarten Sie diesbezüglich Impulse von der Grossen Koalition in Berlin?
Nein. Deutschland betreibt keine aktive Aussenpolitik. Jetzt wird zwar der weltweite militärische Einsatz ausgedehnt, was ich übrigens nicht befürworte, aber von den heissen Themen lässt man die Finger. Zuerst entscheiden die USA, dann folgt die EU und am Schluss gibt jeweils Berlin noch eine Erklärung ab.

Stellungnahme von SRF
«Ulrich Tilgner hat jahrelang als fester freier Korrespondent für SRF aus Iran, Irak und Afghanistan berichtet. Seit er 65 Jahre alt ist, hat er sein Engagement etwas reduziert, berichtete aber immer noch regelmässig als Freier für SRF. Es ist nicht vorgesehen, einen festen Ersatz für Ulrich Tilgner in diese Region zu schicken. Pascal Weber ist unser ständiger Nahost-Korrespondent in der Region. Je nach Nachrichtenlage schicken wir zusätzliche Sonderkorrespondenten ins Gebiet oder greifen auf andere freie Korrespondenten vor Ort zurück.» (SRF-Sprecher Stefan Wyss)

Sie waren unser Mann im Nahen Osten, auf dessen Analyse wir uns verlassen haben. Wer folgt nach Ihnen?
Das weiss ich nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass die Position sporadisch besetzt wird. Ich habe diese Region nur mit sehr grosser Eigeninitiative bereisen können. Aufgrund der hohen Kosten kann ich mir nicht vorstellen, dass dort wieder jemand permanent postiert wird. Für das Schweizer Fernsehen würde das einen Ausbau bedeuten. Ich hoffe, das passiert, aber ich sehe es nicht. Die Auslandkorrespondenten werden eher zurückgerufen und ihre Stellen gestrichen.

Was würden Sie Ihrem Nachfolger mit auf den Weg geben?
Dass er versucht, unabhängig zu sein. Ein leeres und hehres Wort. Sich nicht vom Mainstream beeindrucken lassen, sondern so oft wie möglich mit Persönlichkeiten vor Ort sprechen und versuchen zu begreifen, was die Menschen wirklich bewegt. Sie denken aus ihrer Perspektive ebenso logisch wie wir im Westen aus der unseren und man muss sich bemühen, dieses unterschiedliche Denken zu verstehen.

2006 beim Zürcher Sechseläuten

Bild
Bild: KEYSTONE

Kann das einer jungen Person, auch einer Frau, im patriarchalischen Nahen Osten gelingen?
Absolut. Die Schweizer Vertretung in Kabul wird von einer Frau geleitet, es gab eine Frau als Schweizer Botschafterin in Teheran. Es gibt hervorragende Journalistinnen in der Region. Sie haben gegenüber den Männern einen grossen Vorteil.

Welchen?
Sie sind eher bereit, diesen schlecht bezahlten Job zu machen. Sie wurden nicht erzogen, um für den Lebensunterhalt einer Familie aufzukommen. Das ist Sache der Männer, die den Journalismus daher eher meiden. Deshalb sind diese Frauen auch unabhängiger.

Werden Sie dem Schweizer Publikum in irgendeiner Weise verbunden oder erhalten bleiben?
Verbunden mit Sicherheit, da ich die Schweizer Politik und Lebensart schätze. Erhalten eher nicht, weil ich wie gesagt nichts davon halte, zu Fragen Stellung zu nehmen, in die man nicht genügend eingearbeitet ist. Da sollte man lieber schweigen.

Wie gefällt Ihnen watson?
Was ich bis jetzt gesehen habe, fand ich gut und witzig gemacht. Auch in der Auslandsberichterstattung kann man mit gutem Boulevard punkten.

DANKE FÜR DIE ♥
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