Ist sie Frau? Ist er Mann? Ist es ein Wesen? Von dieser Welt, von einem andern Stern? Ein Engel gar? Conchita Wurst ist die wundersamste Erscheinung dieses Eurovision Song Contest, verwirrend attraktiv, erhaben in der Performance, ihr Song hat Bond-Potenzial , ihre Stimme ist so gross, dass die Callas, wenn sie noch am Leben wäre, platzen müsste vor Neid.
Conchita Wurst, die mal ein Mann namens Tom Neuwirth war, ist ein Wunder der Selbsttransformation. Und der Selbstbefreiung. Eine vollendete Frau, deren Gesicht bewusst in einem Zustand geschlechterspezifischer Unvollendetheit und Unentschiedenheit verharrt. Ein Hybrid von einem Gesicht, eine Lady, aber eben mit Bart, eine echte «bearded Lady», wie einst die Freaks in den Zirkuszelten des Grusels genannt wurden. Diese Damen litten allerdings unter Hypertrichose, also an einem ungewollt auftretenden Haarwuchs aufgrund einer hormonellen Störung. Bei Conchita Wurst ist der Bart ein absichtliches Restmerkmal von stehengebliebener Männlichkeit. Er signalisiert: Mein Leiden hat ein Ende.
Man mag Bärte mögen oder nicht, Conchita Wursts Konzept von irritierend doppelgeschlechtlicher Identität ist jedenfalls zu bewundern. Da steht ein Mensch zu seiner Unentschiedenheit, zu seiner Indifferenz gegenüber Festschreibungen, das ist kühn. Und schön. Und total Judith Butler. «Gender Trouble» hiess 1990 das Buch der Philosophin, das einer Anleitung zur sexuellen Revolution gleichkam. Weil es Geschlecht als performative Grösse ohne fixe Heimat wahrnahm, als Reise hin zu einer Existenzform, die alle ganz für sich selbst finden müssen.
Seit Simone de Beauvoirs «Le Deuxième Sexe» (1949) hatte kein Buch die Geschlechter-Debatten so sehr befruchtet wie «Gender Trouble» – und keines ist ihm bisher gefolgt. Judith Butlers Fangemeinde ist weltweit riesig, sie ist die intellektuelle Freundin und Geburtshelferin so vieler Dragqueens und -kings, sie hat unzähligen Trans-Menschen zu ihrem Selbstverständnis verholfen. Und wo sie auftritt, da finden sich auch heute hunderte von jungen Menschen, von Frauen und Männern und allen dazwischen.
Am Dienstag äusserte sich Judith Butler in der österreichischen Zeitung «Die Presse» über die Befreiung von Normen und von Biologie, gab jedoch zu, dass eine Mann-Frau-Kategorisierung ganz praktisch sei, um die Welt grundsätzlich zu organisieren und sich darin zu orientieren. Dass eine derartige Kategorisierung allerdings niemals ausreiche, um das Wesen eines Menschen zu erfassen. Conchita Wurst ist jetzt die Menschwerdung von Judith Butlers Theorie, halb Frau, halb Mann, in beidem alles andere als unsichtbar oder zurückhaltend. Und ihr Lied? Es handelt von einem Menschen, der dank einer radikalen Veränderung endlich sich selbst wird. Das Wort «transformed» leuchtet da, als wäre Conchita ganz Judith Butler verpflichtet, gut hörbar aus allem heraus.