«Reich werden wollte ich nie, nur gut. Viel Geld zu haben, wäre langweilig», sagt Ariella Kaeslin 2014 im «Blick». Drei Jahre zuvor tritt die Schweizerin mit nur 23 Jahren überraschend zurück. Die Entbehrungen im Spitzensport sind ihr zu gross. Kaeslin trainiert 30 Stunden pro Woche, zählt jeden Tag ihre Kalorien, hat jeden Tag Schmerzen. Nicht selten kommen ihr vor lauter Erschöpfung die Tränen. Und trotz allen Leides kommt am Tag ihres Rücktritts die Frage auf, was sie ohne das Kunstturnen denn sei.
Turnen dominiert früh Kaeslins Leben. Bereits als Vierjährige legt sie los, mit 13 zieht sie von zu Hause aus und ins nationale Leistungszentrum der Kunstturner nach Magglingen im Kanton Bern.
Dieses Leistungszentrum wird seinem Namen gerecht. Als Kind hat Ariella Kaeslin «Seich» im Kopf, ist wild und rebellisch. In Magglingen verliert sie den Spass am Leben, wird zur Maschine. Aus der wilden Ariella wird eine ruhige und zurückhaltende junge Frau.
Am schlimmsten ist die Zeit bei Trainer Eric Demay, der später gefeuert wird. Wer nicht spurt, kommt unter die Räder. Kaeslin wird schikaniert und gedemütigt. Der Trainer bietet den Turnerinnen Schokolade an, doch wenn sie zugreifen, werden sie bestraft. In der «Schweiz am Sonntag» erklärt sie, weshalb sie sich nicht vehementer gewehrt habe: «Als einzelne Turnerin hatte man keine Chance. Sobald man etwas gesagt hat, kam als Reaktion durch den Trainer wieder der Hammer. Irgendwann haben wir dann halt nichts mehr gesagt.»
Ariella Kaeslin gehört zu ihrer Aktivzeit zu den besten Kunstturnerinnen der Welt. Ihre Paradedisziplin ist der Sprung. Höhepunkte sind die Silbermedaille an der Weltmeisterschaft in London 2009 und ein Europameistertitel. Zusätzlich holt sie zwei weitere EM-Bronzemedaillen. Von 2008 bis 2010 wird sie dreimal in Folge zur Schweizer Sportlerin des Jahres gewählt.
Doch Aufwand und Ertrag stehen bei der Luzernerin nie im Verhältnis. Für ihren Europameistertitel gibt es 20'000 Franken, ein Hohn verglichen mit anderen Sportarten. Schnell ist Kaeslin klar, dass es für sie eine Karriere nach der Karriere geben wird, geben muss.
Am 11. Juni 2011 gibt die Kunstturnerin ein Jahr vor den Olympischen Spielen in London überraschend ihren Rücktritt bekannt. Sie ist ausgelaugt, schlapp, leidet an einer Erschöpfungsdepression. Doch sie erhofft sich zu viel von diesem Schritt. In der «Schweiz am Sonntag» sagt sie: «Die Zeit unmittelbar nach dem Rücktritt war sehr schwierig, bis ich mich erholt und wieder im Leben Fuss gefasst hatte.»
Ariella Kaeslin bereut die Zeit als Spitzensportlerin nie. Turnen ist mehr als ein Beruf für sie, Turnen ist ihr Leben. Ihre Mutter hat ihr mehrmals angeboten, in ein «normales» Leben zurückzukehren, doch selbst in den schwierigsten Phasen ihrer Karriere ist der Wille zu stark, die Freude am Sport zu gross.
Im Juni 2015 veröffentlicht Ariella Kaeslin ihre Biografie «Leiden im Licht». In diesem Buch kommen schockierende Details ihrer Karriere hervor. Die Kunstturnerin arbeitet ihr Leben auf und erzählt, wie nahe sie am Abgrund gestanden hat.
Heute geht es dem ehemaligen «Schätzchen der Nation» wieder gut. Kaeslin steht mitten im Leben, hat die Matura nachgeholt und möchte in Bern Sport studieren.