Stell dir mal vor: Der Trainer der Schweizer Fussball-Nati wechselt im WM-Final einen Bub ein, der eben noch auf der Tribüne sass. Der schiesst das Siegestor in der Verlängerung und taucht dann in der Masse unter – niemand erfährt jemals, wer er war.
«Unvorstellbar», sagst du, und hast damit natürlich recht. Heutzutage ginge es keine 24 Stunden und die Welt würde nicht nur den Namen des Jungen kennen, sondern auch dessen Schuhgrösse, das Lieblingscafé seiner Grossmutter und dass er einst vom Lehrer dabei erwischt wurde, wie er beim Diktat seinem Banknachbarn abschrieb, als er sich bei einem Komma nicht ganz sicher war.
Im Jahr 1900 sind jedoch sowohl Sport wie auch Medien noch weit von heutigen Massstäben entfernt. So kommt es an den Olympischen Spielen von Paris zum Kuriosum, dass ein namenloser Knabe zum jüngsten Olympiasieger aller Zeiten wurde.
Sieben Boote treten am 25. August zu den Vorläufen im Zweier mit Steuermann an – allein fünf Boote stellen die gastgebenden Franzosen. Favoriten sind jedoch die beiden Holländer Roelof Klein und François Brandt, die mit ihrem Steuermann Hermanus Brockmann antreten. Dieser ist – nomen est omen – für Ruderverhältnisse tatsächlich ein Brocken. Nur weil er zu schwer sei, hätten sie ihren Vorlauf verloren, ärgern sich Klein und Brandt.
Die Holländer sehen, dass die Franzosen leichtere Steuermänner an Bord haben, und haben vor dem Final, zu dem sie trotz verlorenem Vorlauf antreten können, die zündende Idee. In einer Blitzaktion komplimentieren sie den 60 Kilogramm schweren Brockmann aus dem Boot und ersetzen ihn durch einen Jungen, der den Ruderern bei der Vorbereitung aufs Rennen zuschaut.
Zunächst scheint dieser Trick zu scheitern – denn der Knabe ist zu leicht, das Heck ragt in die Höhe. Erst als ihm die Holländer einen Bleigürtel umlegten, sei das Boot flach auf dem Wasser der Seine geblieben, erinnert der Blog Le ciel de Leyenda.
Im Final müssen sich Klein/Brandt gegen drei französische Boote wehren. Und die Einheimischen geben anfangs Gas, scheinen davonzuziehen. Doch auf den allerletzten der 1750 Meter überholen die Holländer mit ihrem jungen Steuermann die Gegner doch noch. Zwei Zehntelsekunden Vorsprung – Gold für die beiden Oranje!
In der Euphorie geht nur eines unter: den Jungen zu fragen, wie er heisst. Obwohl man nach ihm sucht, taucht er nicht mehr auf. Auch Zeitungsberichte in Frankreich, die auf Initiative der Holländer erscheinen, bringen kein Licht ins Dunkle.
Sporthistoriker sind sich uneins über das Alter des Jungen. Die Mehrheit geht davon aus, dass er etwa sieben Jahre alt war, es gibt auch Schätzungen, dass es sich um einen Zwölfjährigen gehandelt hat. Selbst in diesem Fall ist er noch der jüngste Olympiasieger aller Zeiten. Seine Medaille erhielt jedoch Hermanus Brockmann – der Steuermann, dessen zu hohes Gewicht dieses Sportmärchen erst möglich gemacht hat.
Gut sind sie nicht gekentert!
Hätten sie gekentert, wäre der Junge abgesoffen wie ein Stein.