Dieser Hammer sitzt: Augenthaler bezwingt den zu weit vor dem Tor stehenden Uli Stein. bild: Screenshot youtube
19. August 1989: In der Auswahl des «Tor des Jahres» in Deutschland kommen nicht nur spektakuläre Treffer in Frage, sondern teilweise auch einfach «nur» wichtige Tore. Nichts so bei den Torschützen des Jahrzehnts. Einer davon ist ein Verteidiger, vor dessen Geschossen sich die ganze Liga fürchtet.
Kennen Sie Michael Stahl, Kurt Meyer oder Klemen Lavric? Muss man auch nicht. Diesen drei Herrschaften ist es gelungen, in Deutschland das «Fussballtor des Jahres» zu erzielen. Doch für ein «Fussballtor des Jahrzehnts» braucht es dann aber doch einen grossen Fussballer-Namen. Insgesamt dreimal wurde die Wahl durchgeführt, dreimal siegte ein ganz Grosser: Klaus Fischer (70er), Klaus Augenthaler (80er) und Bernd Schuster (90er) heissen die Gewinner.
Bei 43 Auszeichnungen für die «Tor des Jahres»-Wahl haben es nur zwei Verteidiger in die Liste geschafft. Einer davon: Klaus Augenthaler. Kein Zufall, wenn man seine Karriere etwas genauer unter die Lupe nimmt.
Ein Mann sieht rot: Die gesamte Spielerkarriere verbringt Augenthaler bei Bayern München. Bild: Bongarts
Als 20-Jähriger feiert der Ur-Bayer sein Debüt als Profi bei Bayern München und schiesst gleich sein erstes Tor in der Bundesliga. Sein Förderer: Der ungarische Trainer Gyula Lóránt, der den jungen Spieler 1977 vom Nachwuchsteam ins Fanionteam holt und in Augenthaler – Lóránt nennt ihn «Gurkenthaler» – das perfekte Puzzleteil für sein Spielsystem sieht.
Der Ungare lässt nämlich als einer der Ersten seines Fachs in Deutschland eine Art «Raumdeckung» praktizieren. So sollen seine Spieler nicht nur stur den Mann «decken», sondern sich auch ohne Orientierung am Gegenspieler in den Spielfeldzonen frei bewegen.
Die Defensive seines Teams soll aber immer noch einen klaren Chef haben. In die Rolle als Libero oder Ausputzer soll Augenthaler schlüpfen, der in die Fussstapfen des zu New York Cosmos abgewanderten Franz Beckenbauer tritt.
Oberschenkel wie ein Pferd: Dies mussten auch die Gegenspieler in Europa erfahren, hier Michel von Real Madrid. Bild: Bongarts
Die Position scheint wie gemacht für den smarten Abwehrspieler. Ausserdem hat der Niederbayer noch eine zusätzliche Waffe: Einen strammen Rechtsschuss, mit dem die Bundesliga noch öfters Bekanntschaft schliessen sollte.
So schiesst der Mann, mit den bereits in jungen Jahren zahlreichen Falten im Gesicht, bis zu seinem Karriereende als Verteidiger 52 Treffer in der Bundesliga. Seinen sicherlich schönsten Treffer erzielt «Auge» in der ersten DFB-Pokal-Runde 1989 gegen Eintracht Frankfurt, als er den Ball von der Mittellinie – ein ARD-Zuschauer berechnet eine Distanz von 49,5 Meter – über Frankfurts Torwart Uli Stein hinweg ins Tor drischt.
Das Traumtor von Augenthaler: Bayern München hat der Sieg zwar eine Runde weiter gebracht, doch im Achtelfinal war trotzdem Endstation für den späteren Meister. Video: YouTube/ RetroFieber
Stein wehrt sich laut dem Fussballmagazin «11 Freunde» vehement dagegen, zu weit vor dem Tor positioniert gewesen zu sein: «Ich verhindere dadurch immer noch mehr Tore, als ich bekomme», sagte er damals bestimmt.
Klaus Augenthalers Tor wird von der ARD Sportschau als «Tor des Jahres» (später dann als «Tor des Jahrzehnts») gewählt. Bei der Auszeichnung in der Westfalenhalle fragt Moderator Reinhold Beckmann, ob er sich bereits bei Uli Stein für dessen Mithilfe bedankt hat. «Ich kann ihm ja die Hälfte der Medaille geben», meint «Auge» mit seinem typischen trockenen Humor.
Über 800'000 haben bei der Wahl des deutschen Fernsehsenders teilgenommen. Davon mehr als die Hälfte aus der DDR. «Auge» freut sich über den Support: «Ich grüsse hiermit die Fans in der DDR, die mir das Vertrauen geschenkt haben und die Plakette haben gewinnen lassen.»
Einige Monate später wird Augenthaler noch eine grössere «Plakette» bekommen und noch mehr Menschenmassen bewegen. Der bärbeissige Verteidiger gewinnt 1990 nämlich mit Deutschland den Weltmeistertitel. Nach seiner Aktivkarriere wird Augenthaler Trainer und steht unter anderem bei Nürnberg, Bayer Leverkusen und Wolfsburg unter Vertrag. Nach einer längeren Auszeit wäre «Auge» mittlerweile wieder offen für ein neues Engagement. Vielleicht winkt ja bald irgendwo ein Job als Weitschusstrainer.
V.l.n.r.:Jürgen Kohler, Klaus Augenthaler, Pierre Littbarski und Stefan Reuter im Glücksrausch. Bild: Bongarts