Die Meisterschaft 2001 ist eigentlich schon gelaufen. Bayern München hat vor dem letzten Spieltag drei Punkte Vorsprung auf den ersten Verfolger Schalke. Ein Punkt reicht auf jeden Fall zum Titel. Das wird sich der Rekordmeister nicht mehr nehmen lassen – glauben alle.
Bayern-Keeper Oliver Kahn heizt vor dem Gastspiel beim Hamburger SV nochmals die Stimmung an. «Bis auf die Bayern-Fans wird ganz Deutschland gegen uns sein. Was schöneres gibt es nicht», posaunt der Titan siegessicher. Doch dann in Hamburg tun sich die Bayern schwer, zumindest schwerer als erwartet. Bis zur 90. Minute steht es 0:0, als HSV-Stürmer Sergej Barbarez das Team von Ottmar Hitzfeld mit seinem 1:0 ins Elend stürzt. Doch noch ist die Partie nicht zu Ende.
Auf Schalke ist die Partie gegen die SpVgg Unterhaching bereits beendet. Um 17.16 Uhr pfeift der Unparteiische Hartmut Strampe das Spiel ab. Es ist die letzte Partie im altehrwürdigen Parkstadion und die «Knappen» erkämpfen sich nach einem 0:2-Rückstand noch den verdienten 5:3-Sieg. Unterhaching steigt ab, und was ist mit Schalke? 65'000 Zuschauer können es kaum fassen: Meister, endlich, nach 43 Jahren!
Denn kurz nach dem Abpfiff heisst es im Parkstadion, dass das Spiel in Hamburg ebenfalls zu Ende sei, dass die Bayern 0:1 verloren hätten. Nico van Kerckhoven aber stürmt zu Manager Rudi Assauer und ruft: «Es ist noch nicht aus!» Trainer Huub Stevens schickt die Spieler in die Kabine, die alte, nicht mehr funktionierende Rolltreppe hoch. Einige bleiben dennoch auf dem Spielfeld, zusammen mit Assauer und Andreas Müller.
Dann sagt Premiere-Kommentator Rolf Fuhrmann im Interview mit Möller vor laufender Kamera, in Hamburg sei Schluss und Schalke sei Meister. Assauer jubelt – und die Falschmeldung nimmt seinen Lauf.
Die Stadionregie löst wie geplant ein Feuerwerk aus. Es wird fatalerweise als Startsignal für die Meisterfeier gedeutet. Tausende Fans strömen jetzt auf den Rasen, nicht ahnend, dass die Partie in Hamburg noch läuft. Die Schalke-Spieler liegen sich in den Armen, überall wird ausgelassen gefeiert.
Doch dann, nach exakt 4 Minuten und 38 Sekunden, das jähe Ende der Feierlichkeiten: Auf der Videoleinwand hinter der Südtribüne flackern plötzlich Bilder auf. Bilder vom Bayern-Spiel in Hamburg. Dort hat Torhüter Oliver Kahn seine Vorderleute nach dem 0:1 angeschrien: «Weitermachen, immer weitermachen!» Und das tun die Bayern auch.
In der 94. Minute nimmt HSV-Keeper Mathias Schober – ein Schalker Eigengewächs und von S04 nach Hamburg ausgeliehen – einen Rückpass von Tomas Ujfalusi mit der Hand auf, Schiedsrichter Dr. Markus Merk gibt indirekten Freistoss.
Wie von der Tarantel gestochen sprintet Kahn nach vorne und rempelt HSV-Spieler an, rüttelt alle auf und will in seinem Übereifer sogar den Freistoss schiessen. Stefan Effenberg behält die Nerven und weist ihn ab: «Nein, nein, bleib ruhig und lass den Patrik ran!» Schliesslich nimmt Abwehrchef Patrik Andersson Anlauf – und trifft.
Der Ball flutscht unter der Mauer hindurch, passt haargenau. Wenig später ist Schluss: Die Bayern und nicht Schalke sind Meister. Während Hitzfeld vor der Bank, umringt von seinen Spielern, tänzelt, sprintet Kahn zur Eckfahne, holt sie aus der Verankerung und lässt seinen Emotionen freien Lauf.
Auf Schalke sehen die Fans den Treffer von Andersson auf der Grossleinwand. Fassungslos starren sie nach oben, Konsternation macht sich breit. Auf dem Rasen brechen viele Fans heulend zusammen, anderen fehlt die Kraft zum Weinen. Dem riesigen Konzert des Jubels wird der Stecker gezogen. Schliesslich legt sich eine gespenstische Stille über das Stadion.
In der Kabine macht sich Frust breit. «Bänke, Türen, Fernseher – nichts ist mehr heil geblieben. Zum Glück hat uns keiner die Rechnung geschickt», sagt Verteidiger Marco van Hoogdalem später.
Trainer Stevens schickt seine Jungs schliesslich auf den Balkon. Mit leeren Gesichtern klatschen sie in die Menge. Als «You'll never walk alone» gespielt wird, verliert selbst Stevens, dieser harte Hund, den Kampf gegen die Tränen.
Manager Rudi Assauer schwört dem Fussballgott ab: «Wenn er gerecht wäre, wäre Schalke Meister geworden.» Die Tränen machen die Königsblauen immerhin zum «Meister der Herzen».
Eine Woche später holt Schalke dank einem 2:0-Sieg gegen Union Berlin den DFB-Pokal. Die Welt ist wieder in Ordnung. Zumindest fast. Denn so richtig wird sie das erst sein, wenn Schalke endlich den ersten Meistertitel seit 1958 feiern kann. Für mehr als 4:38 Minuten.
...und Meister wird Schalke wohl trotzdem nie mehr.
Ich höre immer den Tonfall und das teuflische Lachen meines ehemaliger Arbeitskollege und Bayern-Fan, wenn er diese drei Wort sagte.