In den 70er- und 80er-Jahren ist der FC Liverpool das Mass aller Dinge. Nicht nur in England, auch in Europa: 11 Meistertitel und 4 Meistercups holen die «Reds» in den 18 Jahren zwischen 1973 und 1990. Ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Dominanz folgt der grosse Dämpfer: Als 1985 vor dem Meistercup-Final gegen Juventus Turin im Brüsseler Heysel-Stadion die eigenen Fans den Block der Juve-Anhänger nach beiderseitigen Provokationen stürmen und in der sich ausbreitenden Massenpanik 39 Menschen den Tod finden, wird Liverpool für sieben Jahre von internationalen Wettbewerben ausgeschlossen.
Und die «Reds» müssen eine weitere Tragödie verkraften. Im FA-Cup-Halbfinal 1988/89 gegen Nottingham Forest sterben im Sheffielder Hillsborough-Stadion 97 Menschen, weil Tausende Fans in den bereits vollen Sektor drängen. Davon erholt sich der Klub lange nicht.
Nach Gründung der Premier League verliert Liverpool trotz hochkarätigen Stars wie Paul Ince, Steve McManaman, Robbie Fowler, Michael Owen und Jamie Redknapp immer mehr an Boden. Nur noch ein Titel (League Cup 1995) landet an der Anfield Road, den Rest machen die Rivalen Manchester United, Arsenal und Chelsea allzu oft unter sich aus.
Etwas zu feiern gibt es erst 2001 wieder, als Liverpool in Dortmund mit einem 5:4-Sieg gegen Deportivo Alavés den UEFA Cup gewinnt. Aber wen interessiert schon der «Cup der Verlierer» (Franz Beckenbauer)?
Deutlich grösser ist die Euphorie vier Jahre später. Dank Siegen in der K.o.-Runde gegen Leverkusen, Juventus Turin und Chelsea stehen die «Reds» erstmals seit Heysel wieder in einem Champions-League-Final.
Im neuen und ausverkauften Istanbuler Atatürk-Stadion ist die grosse AC Milan der Gegner. Der Champions-League-Sieger von 2003 ist mit seinen Superstars Paolo Maldini, Andrea Pirlo, Clarence Seedorf, Kaká, Hernan Crespo und Andrij Schewtschenko der haushohe Favorit, Liverpool – mit Sami Hyypiä, Xabi Alonso, Steven Gerrard und Milan Baros – werden höchstens Aussenseiterchancen zugerechnet.
Captain Gerrard hat damit kein Problem: «In der Königsklasse haben wir unsere wahren Werte gezeigt. Deshalb steigen wir zwar mit Respekt, aber ohne Furcht in den Final gegen Milan», sagte er und fügte an: «Wir waren diese Saison stets die Underdogs und werden auch in Istanbul der Aussenseiter sein. Aber auch Underdogs sind bisweilen giftig und gute Wachhunde.»
Doch zu Beginn der Partie schlafen die Wachhunde noch. Bereits nach 52 Sekunden klingelt es im Kasten von Liverpool-Keeper Jerzy Dudek. Nach einem Freistoss von Regisseur Pirlo ist es Milan-Captain Maldini, der zur 1:0-Führung trifft. Die Engländer wirken ob des frühen Rückstands völlig verunsichert, bekommen gegen die überragend aufspielenden Italiener kein Bein vors andere. Crespo erhöht nach zwei herrlich vorgeführten Kontern bis zur Pause auf 3:0. Der Mist scheint bereits nach 45 Minuten geführt, die Mehrheit der 69'500 Zuschauer ist total konsterniert.
«Wenn wir ein frühes Tor schiessen, ist vielleicht noch etwas drin», sagt Liverpool-Trainer Rafael Benitez in der Kabine seinen geknickten Mannen. So richtig dran glauben tut aber auch er wohl nicht mehr. Als die «Reds» auf den Platz zurückkehren, läuft es ihnen aber kalt den Rücken runter. Tausende englische Fans stimmen aus voller Kehle die Klub-Hymne «You'll never walk alone» an.
Dann, neun Minuten nach Wiederanpfiff, geschieht das Unfassbare. In «sechs Minuten des Wahnsinns», wie Milan-Trainer Carlo Ancelotti nach dem Spiel sagen wird. Zunächst trifft Gerrard per Kopf zum 1:3 und plötzlich zeigt Liverpool endlich seine englischen Tugenden, kämpft verbissen um jeden Ball. Nur zwei Minuten später erzielt der Tscheche Vladimir Smicer das 2:3.
Die Liverpool-Fankurve steht Kopf und peitscht die Mannschaft weiter nach vorn. Vier weitere Minuten später pfeift Schiedsrichter Manuel Mejuto González Elfmeter für Liverpool. Xabi Alonso läuft an, scheitert aber an Dida. Mit dem Nachschuss trifft er dann doch noch zum 3:3-Ausgleich. Nach den verrücktesten sechs Minuten der Klubgeschichte brechen auf den Rängen alle Dämme. Kollektiver Freudentaumel.
Milan taumelt, doch Liverpool verpasst die endgültige Entscheidung. Auch weil man aus Angst vor einem Konter einen Gang zurückschaltet. Es geht in die Verlängerung. Dort wird Jerzy Dudek ein erstes Mal zum grossen Helden: In der 117. Minute rettet der polnische Keeper seine Mannschaft mit einer Glanzparade ins Elfmeterschiessen.
Völlig allein kommt Milan-Stürmer Schewtschenko nach einem Abpraller einen Meter vor dem Tor zum Abschluss, doch irgendwie schafft es Dudek, die Kugel noch über die Latte zu lenken. «Ich werde nie begreifen, wie er diesen Ball halten konnte», wird der Ukrainer später sagen.
Also Elfmeterschiessen, nicht gerade die englische Spezialdisziplin. Doch Liverpool hat ja noch seinen polnischen Keeper Dudek. Wie ein Hampelmann hüpft dieser vor den Versuchen der Milan-Schützen auf der Linie herum. Die Massnahme wirkt: Serginho schiesst übers Tor, Pirlo scheitert an Dudek, während die Liverpool-Einwechselspieler Didi Hamann und Djibril Cissé treffen.
Milan bleibt dank John Arne Riises Fehlschuss und den Treffern von Jon Dahl Tomasson und Kaká im Spiel, Schewtschenko, der vierte Schütze der Italiener, muss aber treffen. Wieder tänzelt Dudek auf der Linie und hält auch den schwach getretenen Elfer des Ukrainers. Die Sensation ist geschafft.
Captain Gerrard darf wenig später den Henkelpott in die Höhe stemmen, es ist der fünfte in Liverpools Geschichte, der erste nach einer mehr als 20-jährigen Durststrecke. «Das ist ein wahnsinniger Moment. Diesen Abend werde ich niemals vergessen», sagt der damals 24-jährige Superstar.
Das findet auch Trainer Benitez: «Das ist die schönste Nacht meines Lebens», verkündet der Spanier, um sich dann sofort zu korrigieren. «Okay, ich habe eine Frau und zwei wunderbare Kinder, da kann ich schlecht behaupten, dass sei die schönste Nacht meines Lebens.»
Held Dudek gibt sich nach dem Schlusspfiff bescheiden, die Lorbeeren will er aber dann doch nicht teilen: «Ich war gut auf die Schützen Milans vorbereitet», gibt er zunächst noch zu, fügt dann jedoch an: «Aber ich habe mich nicht immer so entschieden, wie wir es in den Videos analysiert hatten.»
In der Heimat wird den Champions-League-Helden ein triumphaler Empfang bereitet. Mehr als eine Millionen Menschen säumen bei der Parade durch die Stadt die Strassen. In der Beatles-Stadt herrscht Ausnahmezustand: Den Pubs geht das Bier aus, jeder fünfte Einwohner nimmt sich Ferien, um die Rückkehr der Helden aus Istanbul zu feiern.
Nur der vereinseigene Fanshop bleibt trotz der Nachfrage nach Schals, Trikots und Fahnen geschlossen. Sämtliche Mitarbeiter wollen lieber feiern und treffen bei den restlichen Fans auf vollstes Verständnis.
Aber auch wer nicht mitfeiern kann, zeigt Farbe: Bankangestellte kombinieren das Liverpool-Trikot zum grauen Anzug, Schüler tragen das rote Shirt unter der vorgeschriebenen Schuluniform, ein Fan hat über Nacht sogar seinen VW Golf rot gestrichen und in grossen Lettern «Gerrard» draufgepinselt.
Und der strahlt noch tagelang übers ganze Gesicht. «Diese Fans haben uns so sehr angefeuert, da ist es grossartig, dass wir ihnen den Cup zurückbringen», schwärmt der Captain, der gestehen muss: «Ich hab' die Nacht mit dem Pokal in meinem Zimmer geschlafen. Ich wollte ihn nicht aus den Augen lassen.»
Zum Spiel:
Ich weiss noch genau, wie angefressen ich zur Pause war. „Musste“ gleich eine Frustkeule rauchen gehen. 😉
Komme wieder rein, genau zur Penatly Szene.
Konnte es kaum glauben und rastete fast aus, aus purer Freude.😏
Aber meine persönliche Legende des Spiels ist natürlich der springende Dudek. 🤗