In Moskau kommt es zum ersten rein englischen Champions-League-Final. Chelsea trifft im Luschniki-Stadion auf Manchester United. Für die «Blues» soll er endlich in Erfüllung gehen, der lang gehegte Traum, auf Europas Thron zu sitzen. Unzählige Millionen hatte der russische Besitzer Roman Abramowitsch seit dem Kauf 2003 in den englischen Traditionsklub gesteckt. Die Ausbeute blieb mässig: Lediglich zwei Meisterpokale und einen FA-Cup durfte man sich in fünf Jahren an der Stamford Bridge in die Vitrine stellen.
Doch jetzt soll die Krönung folgen. Die Euphorie ist riesig, obwohl Trainer José Mourinho im September durch den unscheinbaren Avram Grant ersetzt und Chelsea hinter Manchester United zum zweiten Mal in Serie nur Vizemeister wird. Doch in der Königsklasse läuft es: Im Viertelfinal schaltet man Arsenal aus, im Halbfinal dann Liverpool. Nun soll noch Manchester United folgen.
Moskau ist vor dem Anpfiff zu ungewöhnlicher Stunde – damit der Final zur europäischen Primetime übertragen werden kann, wird die Partie erst um 22.45 Uhr Ortszeit angepfiffen – fest in englischer Hand. Trotz aller Warnungen bezüglich verbotenem Alkoholkonsum und vollen Hotels reisen rund 25'000 englische Fans in die russische Metropole. Und auch das Wetter passt sich an: Strömender Regen prasselt vor und während der Partie unentwegt auf den Kunstrasen im Luschniki.
Die von den englischen Medien bis ins Unermessliche hochgeschaukelte Affiche hält dann nicht, was sie verspricht: Das prophezeite Spektakel bleibt aus. Zu gut kennen sich die beiden Teams. United führt spielerisch zunächst die feinere Klinge und geht durch einen Kopfballtreffer ihres Superstars Cristiano Ronaldo in der 26. Minute mit 1:0 in Führung. Von Chelsea ist lange nichts zu sehen. Der Ausgleich in der 45. Minute durch Frank Lampard, der aus kurzer Distanz einschieben kann, fällt aus heiterem Himmel.
Dieses Tor tut dem Spiel gut, es entwickelt sich in der Folge ein offener Schlagabtausch mit Chancen hüben wie drüben, doch weder die Roten noch die Blauen können in der regulären Spielzeit und der Verlängerung die Entscheidung herbeiführen. So muss das Penaltyschiessen diesen rein englischen Final entscheiden.
Carlos Tevez, Michael Ballack, Michael Carrick und Juliano Belletti treffen alle. Dann ist Cristiano Ronaldo an der Reihe. Doch ausgerechnet der vermeintlich sicherste ManUtd-Schütze scheitert an Chelsea-Keeper Peter Cech.
Alle Vorteile liegen nun bei den Londonern. Nachdem Lampard, Owen Hargreaves, Ashley Cole und Nani treffen, liegt der Matchball bei John Terry, dem zehnten Schützen. Trifft der Chelsea-Captain, ist alles vorbei und er und sein Team am Ziel aller Träume.
Eigentlich ist Terry fürs Elfmeterschiessen gar nicht vorgesehen. Weil Didier Drogba in der 116. Minute aber mit Rot vom Platz fliegt, übernimmt der Captain die Verantwortung und meldet sich freiwillig. Sichtlich angespannt schreitet er vom Mittelpunkt zum Sechzehner und setzt sich den Ball bereit. Weil ManUtd-Torhüter Edwin van der Saar erst spät zurück auf die Torlinie geht, muss sich Terry vor seinem Versuch noch ein paar Sekunden länger gedulden.
Behält er die Nerven? Nach einer gefühlten Ewigkeit läuft der Innenverteidiger endlich an und es passiert das Unfassbare: Terry rutscht mit dem Standbein weg und setzt den Ball an den Pfosten.
Also geht das Elfmeterschiessen in die Verlängerung. Dort muss Terry nach den Treffern von Anderson, Salomon Kalou und Ryan Giggs mitansehen, wie nicht ein Engländer, sondern ein Franzose den entscheidenden Elfer verschiesst: Nicolas Anelka scheitert an Edwin van der Sar. Er macht Manchester United so um 1.35 Uhr Ortszeit zum glücklichen Sieger.
Während Ronaldo und Co. mit dem Henkelpott feiern, ist Terry untröstlich. Mit tränenüberströmten Augen schreitet er in Richtung Kabine. Interviews will der Captain in dieser Nacht keine mehr geben.
«Man sieht, wie er leidet», erzählt dagegen Kumpel Frank Lampard. «JT ist Mr. Chelsea, und er wollte den Sieg mehr als jeder andere. Nicht viele Innenverteidiger hätten sich getraut, den fünften Elfmeter zu schiessen. Keiner wird ihn kritisieren.» Trainer Avram Grant stellt sich ebenfalls vor seinen Abwehrboss: «Ich fühle mit ihm. Und eines ist klar: Ohne Terry wären wir niemals bis ins Finale gekommen.»
Mit einigen Tagen Abstand meldet sich auch der Unglücksrabe selbst zu Wort. «Es tut mir so leid, dass ich den Elfmeter verschossen habe und damit euch Fans, meinen Teamkollegen, meiner Familie und Freunden die Chance verbaut habe, Champions von Europa zu werden», schreibt Terry in einem offenen Brief an die Fans.
«Ich habe seitdem nur wenige Stunden Schlaf gefunden, in denen ich oft aufgewacht bin und gehofft habe, dass das alles nur ein schlechter Traum war. Diese Nacht in Moskau wird mich für immer verfolgen. Ich fühle mich, als ob ich alle im Stich gelassen habe. Das schmerzt mehr als alles andere. Ich schäme mich meiner Tränen nicht.»
Am Boden zerstört ist auch Michael Ballack. Der Deutsche hätte nur zu gerne den Fluch des ewigen Zweiten abgelegt. Doch wie schon bei der WM 2002, im Champions-League-Final 2002 und in sechs Saisons mit Leverkusen und Chelsea wird Ballack wieder nur Vize-Champion.
Anders als Ballack, der seine Karriere ohne internationalen Titel beenden wird, darf sich Terry vier Jahre später doch noch Champions-League-Sieger nennen. Zwar ist er im Final gegen Bayern München wegen einer dummen Roten Karte gesperrt, doch seine Teamkollegen sorgen dank einem 5:4-Sieg nach Elfmeterschiessen dafür, dass sich Terry mit der Königsklasse versöhnt.
Die Nacht von Moskau hat die Chelsea-Ikone auch heute noch nicht komplett verarbeitet. «Darüber werde ich nie hinwegkommen», gestand Terry im Frühling 2015. «Vier bis fünfmal pro Jahr wache ich nachts auf und alles ist wieder da. Es wird nie vorbei sein.»
Schlimmer als die Nacht von Moskau sei allerdings der Zusammenzug mit der Nationalmannschaft ein paar Tage später gewesen. «Wir spielten im Wembley gegen die USA und ich sass am Tisch mit all diesen Spielern von ManUnited. Das war für mich das Schlimmste.»
Und damals beschränkte sich das Drama auf den Spielverlauf. Nicht auf Leistung und Nebenschauplätze