Die Zeichen stehen zugegebenermassen ungünstig für ein normales Fussballspiel. Zwei Jahre zuvor bebte im südamerikanischen Staat die Erde und löste einen Tsunami aus, welcher auf die chilenische Küste traf. Die weltweit grösste Magnitude wurde bei dem schwersten Erdbeben des 20. Jahrhunderts aufgezeichnet.
Diese Tragödie, die ein bis zwei Millionen Chilenen obdachlos machte und mehr als 1500 Todesopfer forderte, hinderte zwei italienische Journalisten nicht daran, die Hauptstadt Santiago als «verarmte Müllkippe voller Prostituierten» zu bezeichnen.
Die zwei italienischen Schreiber verlassen zwar das Land noch vor Turnierbeginn (unter Polizeischutz), aber die Worte bleiben in den Köpfen der chilenischen Bevölkerung hängen. Nun beginnen die einheimischen Medien Stimmung gegen Italien zu machen und fingieren weitere böse italienische Presseartikel.
Die FIFA will nach der unfassbaren Naturkatastrophe die WM verlegen, die chilenischen Organisatoren wollen jedoch dieses Turnier unbedingt durchziehen, um ein positives Aufbruchzeichen auszusenden.
Italien und Chile treffen im zweiten Gruppenspiel aufeinander. Dabei haben die Chilenen die besseren Karten. Schliesslich hat das Heimteam die Schweiz im ersten Gruppenspiel bezwingen können, während die Italiener ihrerseits gegen Westdeutschland Remis gespielt haben.
In dieser aufgeheizten Stimmung kommt es also im Nationalstadion Chiles – wo gut ein Jahrzehnt später der Diktator Augusto Pinochet massenhaft Dissidenten foltern lässt – vor 66'000 fanatischen Zuschauern zum Fussballspiel, welches vom englischen Unparteiischen Ken Aston geleitet wird. Dieser darf nach gerademal zwölf Sekunden das erste Foul notieren.
Die Fortführung des Spiels – wenn man es noch so nennen will – kurz zusammengefasst: Tritte en masse, Schlägereien, minutenlange Unterbrüche, Spieler die vom Feld abgeführt werden müssen, Spuckattacken, Verletzungen aller Art (Nasenbeinbruch etc.), sogar Polizeieinsätze und mittendrin ein völlig überforderter Schiedsrichter.
Bereits nach acht Minuten schickt Aston den Italiener Giorgio Ferrini vom Platz. Der weigert sich und muss von der Polizei abgeführt werden. Kurz vor der Pause folgt Landsmann Mario David nach einer Kung-Fu-Attacke gegen den Chilenen Leonel Sanchez.
Der Unparteiische hat das Pech, dass er seine Sanktionen den Spielern immer erklären muss, wobei ihn die Spieler oftmals nicht verstehen können oder wollen ... So ist es mit dem Respekt vor dem Pfeifenmann nicht weit hergeholt. Die Chilenen treffen übrigens gegen die dezimierten Italienern noch zweimal und siegen 2:0.
So endet dass bis heute grösste Skandalspiel an einer Fussball-WM. Schiedsrichter Ken Aston hängt seine Pfeife wenige Monate später an den Nagel. Danach wird er Mitglied in der Fifa-Schiedsrichterkommission, wo der Engländer mit der genialen Idee für die Lösung des Schiedsrichterdilemmas aufwartet, die ihm laut eigener Aussage an einer Ampel in der Kensington Street einfällt: «Rot, du bist draussen. Gelb, nimm es locker.»
So beschliesst die Fifa die Gelben und Roten Karten für die WM 1970 einzuführen. Das Skandalspiel hat also immerhin indirekt zu mehr Fairness verholfen.
Das Heimteam belegt dank einem Sieg gegen Jugoslawien schlussendlich den dritten Platz. Dies ist für 48 Jahre der letzte Sieg von Chile bei einer Endrunde. Kein anderes Land muss so viel Zeit zwischen zwei WM-Siegen überstehen. Dann folgen an der WM 2010 in Südafrika die 1:0-Siege gegen Honduras und die Schweiz. Letzteres ist wegen der Roten Karte gegen Valon Behrami – zumindest aus Schweizer Sicht – ebenfalls eine Art Skandalspiel.