Sport
Unvergessen

Olympia: Die Schweiz erleidet 1964 die «Schmach von Innsbruck»

Flames and smoke soar up with a “whoosh” as the Olympic flame is lit at the top of the Olympic Stadium at Innsbruck, Austria on Jan. 21, 1964. The lighting was part of the first rehearsal for the open ...
Das olympische Feuer im Tirol brennt.bild: keystone
Unvergessen

Die Schweiz erlebt mit der «Schmach von Innsbruck» ein historisches Debakel

9. Februar 1964: Die Olympischen Winterspiele sind zu Ende. Sie bescheren der Schweiz die bis heute grösste Schmach und die «Neuerfindung» unseres Sports.
09.02.2024, 00:0105.02.2024, 15:24
Mehr «Sport»

77 Schweizer Sporthelden reisen Ende Januar 1964 nach Innsbruck. So viele, dass bald das böse Wort vom «Olympia-Tourismus» die Runde macht. Bis und mit 1964 gibt es für die Schweizer keine Qualifikations-Kriterien.

Diese bisher grösste Schweizer Olympiadelegation aller Zeiten kehrt ohne Edelmetall heim. Zum ersten Mal überhaupt gewinnt die Schweiz bei Olympischen Winterspielen keine Medaille.

Zwei vierte und zwei sechste Plätze sind die ganze bescheidene Ausbeute: Jos Minsch verpasst in der Abfahrt Bronze um sechs Hundertstel und Willi Favre kommt im Riesenslalom ebenfalls auf Rang vier. Die beiden sechsten Plätze holen Adolf Mathis im Slalom sowie Gerda und Ruedi Rohner im Paarlaufen. Dieser historische Tiefpunkt führt zu tiefgreifenden Veränderungen in unserem Sport.

Brisantes Interview von Bundesrat Chaudet

Die Diskussionen über das Versagen werden nicht nur am Biertisch geführt. Erstmals hält der Sport Einzug ins politische Establishment. Bundesrat Paul Chaudet – er sollte später in der Mirage-Affäre untergehen – gibt einer internationalen Agentur ein aufsehenerregendes Interview zum helvetischen Spitzensport.

Er bejaht ihn grundsätzlich und stellt erstmals in der Schweizer Geschichte die Möglichkeit der direkten Bundeshilfe im Rahmen der gesetzlichen Grundlagen in Aussicht.

Bundespraesident Paul Chaudet (1904-1977) posiert am Eroeffnungstag des 29. Internationalen Autosalons in Genf mit einem Fotomodel hinter einem amerikanischen Automodell, aufgenommen 1959. (KEYSTONE/S ...
Bundesrat Paul Chaudet 1959 beim Besuch des Automobil-Salons in Genf.Bild: Keystone/str

Im Sommer 1964 wird eine aus 32 Mitgliedern und 25 Experten bestehende Studiengruppe gebildet, die sich in zwölf verschiedenen Arbeitsausschüssen mit den mit dem helvetischen Spitzensport zusammenhängenden Problemen befasst. Die Experten nennen in ihrer Analyse vor allem Unerfahrenheit, ungenügende Technik, fehlende Ausbildung der Trainer, mangelnde Kondition und Material, das in der Zerreissprobe zerbrach, als Ursachen für das historische Debakel. Und sie schaffen schliesslich mit ihren Vorschlägen vor 60 Jahren die Voraussetzungen für die Entwicklung der Sportnation Schweiz.

Impressionen von den Olympischen Spielen 1964 in Innsbruck.Video: streamable

Es wird darauf hingewiesen, dass der Sport in der Schweiz auf absoluter Freiwilligkeit beruhe und dem Spitzenathleten keinen sozialen und materiellen Anreiz biete. Eine Steigerung sei nur dann möglich, wenn dem Spitzenkönner auch gewisse Privilegien eingeräumt würden. Es ist dies die Grundlage zur Entwicklung des Profisportes, wie wir ihn heute kennen.

Schweizer Sport wird von Grund auf neu organisiert

Nach Innsbruck 1964 wird der Schweizer Sport von Grund auf neu organisiert. 1966 erfolgt aufgrund der Erkenntnisse der Expertengruppe die Schaffung des Nationalen Komitees für Elitesport (NKES). Ein spezielles technisches Organ für die Betreuung des Spitzensportes auf allen Ebenen wie Kurswesen, Trainerausbildung, Forschung, Sportmedizin, Medienarbeit und Talenterfassung. Das NKES wird so etwas wie das oberste Management unseres Sportes und koordiniert die gesamten Tätigkeiten.

1970 erfolgt die Gründung der Stiftung Schweizer Sporthilfe als nicht-subventionierte, gemeinnützige Non-Profit-Organisation. Bereits im ersten Jahr ihres Bestehens werden über eine Million Franken eingesammelt. Die Sporthilfe finanziert den Schweizer Spitzensport zu einer Zeit, als Sponsoring im heutigen Sinne noch völlig unbekannt ist.

«Goldene Tage von Sapporo» als Resultat

Diese Neuorganisation trägt Früchte und bereits acht Jahre nach Innsbruck feierte die Schweiz 1972 die «goldenen Tage von Sapporo». Im Rückblick wird klar, dass erst die «Schmach von Innsbruck» diese tiefgreifende Neuorganisation möglich gemacht hatte.

Ein oder zwei Medaillen in Innsbruck hätten mit ziemlicher Sicherheit die Probleme verdeckt, die «Neuerfindung» unseres Sportes um Jahre verzögert und die «goldenen Tage von Sapporo» hätte es vielleicht nie gegeben.

Zwei tragische Todesfälle

Innsbruck sah trotz chronischem Schneemangel perfekt organisierte Spiele. Allerdings war es vor der Eröffnung zu zwei tragischen Unfällen gekommen. Am 22. Januar verunglückte der britische Rodler Kazimierz Kay-Skrzypecki im Training tödlich. Am 25. Januar prallte der 22-jährige Australier Ross Milne beim Abfahrtstraining auf der Olympiastrecke in einen Baum und starb.

Sein Bruder Malcolm Milne sollte 1968 (24.) und 1972 (23.) an den Olympischen Spielen teilnehmen. 1970 gewann er bei der Abfahrts-WM hinter Weltmeister Bernhard Russi und dem Österreicher Karl Cordin sensationell Bronze.

Unvergessen
In der Serie «Unvergessen» blicken wir am Jahrestag auf ein grosses Ereignis der Sportgeschichte zurück: Ob hervorragende Leistung, bewegendes Drama oder witzige Anekdote – alles ist dabei.
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Die kuriosesten Geschichten aus 120 Jahren Olympia
1 / 30
Die kuriosesten Geschichten aus 124 Jahren Olympia
Kein Sportanlass zieht die Menschen mehr in den Bann als die Olympischen Spiele, die seit 1896 zum weltweit wichtigsten Sportereignis geworden sind. Und keine Ausgabe der Sommerspiele blieb ohne ihre eigene kuriose Geschichte.
quelle: ap / lionel cironneau
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Das passiert mit den Olympia-Städten nach den Spielen
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
12 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Herr Hitz
10.02.2020 05:08registriert März 2014
Frage: Gab es 1964 bei der Zeitmessung tatsächlich schon Hundertstelsekunden?
Und nebenbei: Bundesrat Paul Chaudet hatte ja ein keckes Schnäutzchen ...
344
Melden
Zum Kommentar
12
Darum hängt ein Schneepflug in der «Hall of Fame» der New England Patriots
12. Dezember 1982: Dass die New England Patriots gegen die Miami Dolphins siegen, haben sie Mark Henderson zu verdanken. Der ist kein Footballer, sondern fährt im Stadion den Schneepflug.

Ein Football-Spiel geht in der Regel eher nicht mit 3:0 aus. Für einen Touchdown mit anschliessendem Field Goal gibt es ja bereits sieben Punkte. Aber die Partie zwischen den New England Patriots und den Miami Dolphins am 12. Dezember 1982 ist ja auch kein gewöhnliches Football-Spiel.

Zur Story