77 Schweizer Sporthelden reisen Ende Januar 1964 nach Innsbruck. So viele, dass bald das böse Wort vom «Olympia-Tourismus» die Runde macht. Bis und mit 1964 gibt es für die Schweizer keine Qualifikations-Kriterien.
Diese bisher grösste Schweizer Olympiadelegation aller Zeiten kehrt ohne Edelmetall heim. Zum ersten Mal überhaupt gewinnt die Schweiz bei Olympischen Winterspielen keine Medaille.
Zwei vierte und zwei sechste Plätze sind die ganze bescheidene Ausbeute: Jos Minsch verpasst in der Abfahrt Bronze um sechs Hundertstel und Willi Favre kommt im Riesenslalom ebenfalls auf Rang vier. Die beiden sechsten Plätze holen Adolf Mathis im Slalom sowie Gerda und Ruedi Rohner im Paarlaufen. Dieser historische Tiefpunkt führt zu tiefgreifenden Veränderungen in unserem Sport.
Die Diskussionen über das Versagen werden nicht nur am Biertisch geführt. Erstmals hält der Sport Einzug ins politische Establishment. Bundesrat Paul Chaudet – er sollte später in der Mirage-Affäre untergehen – gibt einer internationalen Agentur ein aufsehenerregendes Interview zum helvetischen Spitzensport.
Er bejaht ihn grundsätzlich und stellt erstmals in der Schweizer Geschichte die Möglichkeit der direkten Bundeshilfe im Rahmen der gesetzlichen Grundlagen in Aussicht.
Im Sommer 1964 wird eine aus 32 Mitgliedern und 25 Experten bestehende Studiengruppe gebildet, die sich in zwölf verschiedenen Arbeitsausschüssen mit den mit dem helvetischen Spitzensport zusammenhängenden Problemen befasst. Die Experten nennen in ihrer Analyse vor allem Unerfahrenheit, ungenügende Technik, fehlende Ausbildung der Trainer, mangelnde Kondition und Material, das in der Zerreissprobe zerbrach, als Ursachen für das historische Debakel. Und sie schaffen schliesslich mit ihren Vorschlägen vor 60 Jahren die Voraussetzungen für die Entwicklung der Sportnation Schweiz.
Es wird darauf hingewiesen, dass der Sport in der Schweiz auf absoluter Freiwilligkeit beruhe und dem Spitzenathleten keinen sozialen und materiellen Anreiz biete. Eine Steigerung sei nur dann möglich, wenn dem Spitzenkönner auch gewisse Privilegien eingeräumt würden. Es ist dies die Grundlage zur Entwicklung des Profisportes, wie wir ihn heute kennen.
Nach Innsbruck 1964 wird der Schweizer Sport von Grund auf neu organisiert. 1966 erfolgt aufgrund der Erkenntnisse der Expertengruppe die Schaffung des Nationalen Komitees für Elitesport (NKES). Ein spezielles technisches Organ für die Betreuung des Spitzensportes auf allen Ebenen wie Kurswesen, Trainerausbildung, Forschung, Sportmedizin, Medienarbeit und Talenterfassung. Das NKES wird so etwas wie das oberste Management unseres Sportes und koordiniert die gesamten Tätigkeiten.
1970 erfolgt die Gründung der Stiftung Schweizer Sporthilfe als nicht-subventionierte, gemeinnützige Non-Profit-Organisation. Bereits im ersten Jahr ihres Bestehens werden über eine Million Franken eingesammelt. Die Sporthilfe finanziert den Schweizer Spitzensport zu einer Zeit, als Sponsoring im heutigen Sinne noch völlig unbekannt ist.
Diese Neuorganisation trägt Früchte und bereits acht Jahre nach Innsbruck feierte die Schweiz 1972 die «goldenen Tage von Sapporo». Im Rückblick wird klar, dass erst die «Schmach von Innsbruck» diese tiefgreifende Neuorganisation möglich gemacht hatte.
Ein oder zwei Medaillen in Innsbruck hätten mit ziemlicher Sicherheit die Probleme verdeckt, die «Neuerfindung» unseres Sportes um Jahre verzögert und die «goldenen Tage von Sapporo» hätte es vielleicht nie gegeben.
Innsbruck sah trotz chronischem Schneemangel perfekt organisierte Spiele. Allerdings war es vor der Eröffnung zu zwei tragischen Unfällen gekommen. Am 22. Januar verunglückte der britische Rodler Kazimierz Kay-Skrzypecki im Training tödlich. Am 25. Januar prallte der 22-jährige Australier Ross Milne beim Abfahrtstraining auf der Olympiastrecke in einen Baum und starb.
Sein Bruder Malcolm Milne sollte 1968 (24.) und 1972 (23.) an den Olympischen Spielen teilnehmen. 1970 gewann er bei der Abfahrts-WM hinter Weltmeister Bernhard Russi und dem Österreicher Karl Cordin sensationell Bronze.
Und nebenbei: Bundesrat Paul Chaudet hatte ja ein keckes Schnäutzchen ...