Da liegt sie, im Zielauslauf des Olympiastadions von Athen. Auf dem Rücken, die Beine ausgestreckt, schnappt Anita Weyermann wie ein Fisch an Land nach Luft.
Die 19-jährige Gymnasiastin aus dem bernischen Gümligen ist beim 1500-m-Final der WM an ihre Grenzen gegangen – und auf den letzten 300 Metern sogar noch weit darüber hinaus. Als die Schwedin Malin Ewerlöf ihr auf die Beine helfen will, sackt Weyermann einfach wieder in sich zusammen.
Hat sich dieser brutale Effort gelohnt, oder entscheiden am Ende doch Hundertstel gegen sie? Die 1,62-Meter-Frau weiss nicht, ob sie Dritte oder Vierte geworden ist. Zäh verstreichen bange Sekunden. Dann endlich, die Erlösung durch den Stadionspeaker: «Bronze, Anita Weyermann, Suisse.»
Für die Ausnahmeläuferin ist es die frühe Krönung ihrer Karriere. Nach zwei Juniorentiteln über 1500 m (1994) und 3000 m (1996) gewinnt sie als erste Schweizer Leichtathletin eine WM-Medaille bei der Elite. Dabei sieht es zu Beginn der letzten Runde noch zappenduster aus.
In Abwesenheit der Topfavoritinnen Kelly Holmes und Swetlana Masterkowa geht das Feld das Rennen gemächlich an. Weyermann spart ihre Kräfte und arbeitet sich erst nach 600 Metern sukzessive zur Spitzengruppe vor.
Nach mehreren Führungswechseln ist die Schweizerin rund 300 Meter vor dem Ziel in einer Sackgasse gelandet: Zwei Läuferinnen blockieren ihre Front, seitlich wird sie durch die Irin Sonia O'Sullivan bedrängt. Es gibt keine Lücke! Da macht Weyermann kurzen Prozess. Sie räumt die Konkurrenz im Stile eines Mähdreschers mit grenzwertigem Körpereinsatz zur Seite und setzt sich an die Spitze.
Fritz Weyermann, ihr Vater und Trainer, verteidigt das rabiate Vorgehen später: «Sie ist klein und muss sich in den Rennen irgendwie wehren. Sie ist mit vollem Risiko gelaufen und hat es mit den Händen und Füssen gemacht.»
Dort bleibt sie aber nur wenige Sekunden. Die US-Amerikanerin Regina Jacobs, welche im Laufe des Gerangels von O'Sullivan unfair am Trikot zurückgehalten wurde, setzt zum Comeback an – und auch die portugiesische Topfavoritin Carla Sacramento schiebt sich an Weyermann vorbei.
Jetzt droht der Schweizerin endgültig der Sprit auszugehen. Auf der Zielgerade wird sie von hinten hart durch die Spanierin Maite Zuniga bedrängt. Weyermann erinnert sich: «Ich konnte ihren Atem im Nacken spüren, sah sie sogar kurz neben mir. ‹Nein, also Vierte darfst du nicht werden›, sagte ich zu mir und lief, was meine Beine hergaben.»
Es ist die Geburtsstunde eines geflügelten Wortes, welches sich bis heute im Schweizer Sprachgebrauch gehalten hat: «Gring ache u seckle, seckle, seckle!» Diesen Spruch haut Weyermann raus, als sie von den Journalisten gefragt wird, was ihr in diesem Moment durch den Kopf gegangen sei. Noch heute wird der Satz oft und gern zitiert, wenn sich jemand durch schiere Willenskraft aus einer misslichen Lage befreien will.
Nachdem die aufgebrachten Gegnerinnen sich nach Weyermanns halblegalem Körpereinsatz beruhigt haben und auf einen Protest verzichten, kann sich die Schweizerin endgültig über ihren Coup, WM-Bronze und die Gratulationen von Bundesrätin Ruth Dreyfuss freuen. Sie wiederholt das Kunststück an der Europameisterschaft 1998.
EM-Bronze ist ihr letzter grosser Höhepunkt auf dem internationalen Sportparkett. Zahlreiche Knieoperationen, ein Ermüdungsbruch im Becken und ein Ellbogenbruch werfen Weyermann im weiteren Verlauf ihrer Karriere immer wieder zurück. 2008 erleidet sie kurz vor den Olympischen Spielen in Peking einen Muskelfaserriss und tritt mit 30 Jahren zurück.
Nach einem Wirtschaftsstudium arbeitet Anita Weyermann als Redaktorin beim Radio Berner Oberland. 2011 wird sie Mutter einer Tochter, zwei Jahre später bekommt sie sogar Drillinge. Da hiess es: «Gring ache u wickle, wickle, wickle.»