Olympia-Final über 3000 m der Frauen im Memorial Coliseum in Los Angeles. Gold ist reserviert für Mary Decker: zweifache Weltmeisterin, Postergirl der US-Leichtathletik, grosse Favoritin.
Doch Decker hält dem Druck, zuhause Olympiasiegerin werden zu «müssen», nicht stand. In der fünften Runde läuft sie in die führende Läuferin Zola Budd hinein, sie strauchelt, stürzt und muss aufgeben. Aus der Traum!
Mary Decker will zwar sofort aufstehen, kann aber nicht. Sie verletzt sich beim Sturz an der Hüfte. Tags darauf ist Decker im TV-Studio zu Gast – und gibt Erstaunliches zu Protokoll. Die führende Britin Zola Budd sei schuld am Sturz. Die barfuss laufende Konkurrentin habe ihr den Weg abgeschnitten.
«Ich mache sie dafür verantwortlich. Sie ist wohl noch nie in so einem Rennen gelaufen und wusste nicht, wie sie sich zu verhalten hat.» Sie habe das Rennen nicht verloren, weil sie zu schlecht gewesen sei, sagt Decker weiter und bricht in Tränen aus, «sondern ich das Opfer einer unglücklichen Situation wurde, die ich nicht kontrollieren konnte».
Nur ein paar Meter entfernt verfolgt Cornelia Bürki den Zwischenfall. Die in Südafrika aufgewachsene Rapperswilerin läuft auf Rang 5 – eines der wertvollsten internationalen Resultate der 47-fachen Schweizer Meisterin.
«Ich habe gesehen, was passiert ist», erzählt Bürki. «Zunächst schubste Decker Budd von hinten. Dann überholte Budd sie und setzte sich an die Spitze, was Decker abermals dazu verleitete, Budd zu rempeln.»
Die junge Budd gibt später zu, dass sie sich das Rennen in einem Feld nicht gewohnt gewesen sei: «Als gerangelt wurde, war für mich klar, dass ich nun einfach voran laufe.» Nachdem sie den Kontakt mit Decker gespürt habe, sei ein lautes Raunen durchs Stadion gegangen. «Ich kam ins Straucheln und wusste, dass etwas passiert war, denn die Fans buhten laut.»
Budd wird in der Folge durchgereicht und verpasst als Siebte die Medaillen klar. Doch nicht wegen des Abschneidens will sie nur noch eines: So schnell wie möglich in einen Flieger steigen und Los Angeles verlassen. «Es war wie in einem Alptraum.»
Direkt nach dem Rennen zeigt sich Decker gemäss Budd als faire Sportsfrau. Als Budd zur weinenden Amerikanerin geht und sich für den Zwischenfall entschuldigt, antwortet diese mit einem «schon okay». Ob das die Wahrheit ist? Die Britin meint dazu: «Sie sagt, sie habe mir vergeben. Aber sie gibt mir immer noch die Schuld. Vielleicht ist es wie beim Krieg: Du vergibst, aber du vergisst niemals.»
Bürkis Erinnerungen an das Aufeinandertreffen der beiden nach dem Rennen sind etwas anders. «Decker sass weinend da, Budd lief vor mir in den Tunnel und wollte sich entschuldigen. Decker schrie sie an, dass ich es nie mehr vergessen werde.» Der Sturz hätte in jedem Rennen geschehen können, so Bürki, «er war nicht Zola Budds Fehler und trotzdem gab man ihr die Schuld».
Es dauert einige Monate, bis Decker bemerkt, dass ihre Anschuldigungen nicht gerechtfertigt sind. Zu Weihnachten 1984 schickt sie Budd einen Brief, in dem sie ihr schreibt, sie habe diese Worte schon lange verfassen wollen. «Ich will mich einfach nur dafür entschuldigen, dass ich dich an den Olympischen Spielen emotional verletzt habe», schreibt Decker.
Es sei für sie ein sehr harter Moment gewesen, weswegen sie so emotional reagiert habe. «Wenn wir uns das nächste Mal sehen, würde ich dir gerne die Hand reichen. Lass uns das alles vergessen. Wer weiss? Manchmal werden aus erbitterten Rivalen Freunde.»
Bei all dem Rummel geht die Siegerin beinahe unter. Mit olympischem Rekord läuft die Rumänin Maricica Puica überlegen zur Goldmedaille.