Ein neues Stadion mit 127'000 Plätzen innert 300 Tagen mit einem Budget von 750'000 Pfund erbauen? Unmöglich wäre dies heute. Doch vor 100 Jahren war dies möglich: Der Startschuss zum neuen Wembley-Stadion erfolgte 1922. Grund war die British Empire Exhibition 1924/25.
Das Stadion wurde schon am 25. April 1923 fertiggestellt. Drei Tage später ist mit dem FA-Cup-Final zwischen den Bolton Wanderers und West Ham United das erste Fussballspiel angesetzt. König George V. soll dabei den Siegerpokal übergeben. Doch – oh Schreck! – bis kurz vor der Partie wurden im Vorverkauf nur knapp 36'000 Tickets abgesetzt. Ein halbleeres Stadion will man dem König nicht zumuten, so wird die Werbetrommel für das 127'000 Zuschauer fassende Rund mächtig gerührt. «Viel Platz und exzellente Sicht» wurden versprochen.
Die Massnahmen übertreffen die kühnsten Erwartungen. Zehntausende von Fans strömen am Matchtag zum Stadion. Ab Türöffnung um 11.30 Uhr füllt sich das Stadion. Um 13 Uhr melden die Verantwortlichen, die 127'000 Plätze seien besetzt. Doch der Ansturm vor der Arena reisst nicht ab. Obwohl die Tore geschlossen werden, bleiben die Anhänger hartnäckig – und es werden immer mehr.
Die Polizei kann die Massen längst nicht mehr bändigen. So beginnen immer mehr Leute über die Abschrankungen zu klettern. Bald wird klar: Ein Spielbeginn wie geplant um 15 Uhr ist unmöglich. Gemäss unterschiedlichen Quellen befinden sich am Ende 250'000 bis 300'000 Leute im Stadion. Sie verteilen sich aus Platzmangel überall – selbst auf dem Spielfeld sieht es aus wie in einem Ameisenhaufen. Das Werbeversprechen «viel Platz und exzellente Sicht» verpufft im Chaos.
Während rund 1,5 Kilometer vor dem Stadion Boltons Mannschaftsbus im Stau stecken bleibt und sich die Spieler zu Fuss ihren Weg ins Stadion bahnen müssen, versuchen im Innern die Ordner das Spielfeld frei zu bekommen. Kurzfristig aufgeboten wurde dafür auch George Scorey, der mit seinem grauen Pferd Billy (teilweise auch Billie) auf den Notruf reagierte und die Polizei verstärkt. «Als ich das sah, dachte ich, das ist unmöglich», erinnert sich Scorey später. Doch der Nothelfer versucht es: «Mein Pferd war wunderbar. Es hat die Leute sanft mit der Nase und seinem Schwanz über die Torlinie gedrängt.»
Dem Gespann gelingt es tatsächlich, die Zuschauer zurückzudrängen. Auf Film- und Fotoaufnahmen von 1923 sieht man zwar noch weitere berittene Polizisten, aber Billy fällt durch sein helles Grau (auf den Fotos wirkt es weiss) am meisten auf. Das Endspiel wird daher als «White Horse Final» in die Geschichte eingehen.
Scorey verrät: «Ich habe den Leuten gesagt: Wollt ihr das Spiel sehen? Dann sollen alle in der vordersten Reihe sich die Hände reichen und die Masse Schritt für Schritt zurückdrängen.» Zudem sollen die Zuschauer aus Respekt vor dem König und aus Bedenken, das Spiel könnte abgesagt werden, grösstenteils kooperiert haben.
Als die Partie mit 45-minütiger Verspätung angepfiffen wird, drängen sich die Zuschauer rund um die Seitenlinien. Beim 1:0 für Bolton in der dritten Minute durch David Jack wird ein Zuschauer hinter dem Tornetz von der Wucht des Balles ausgeknockt. Er ist einer von fast 1000 (leicht) verletzten Besuchern des Tages.
Doch dem Treffer haftet ein fader Beigeschmack an. Jacks Gegenspieler führte kurz vor dem Treffer einen Einwurf aus und wurde danach von den Zuschauern zurückgehalten. Er war dadurch nicht zur Stelle, als Jack freistehend abschloss.
Das Spiel muss wenig später unterbrochen werden, da Zuschauer den Platz stürmen. Zur Pause ist es beiden Teams nicht möglich, bis in die Kabinen zu gelangen, weshalb sie die fünf Minuten Unterbruch auf dem Spielfeld verbringen.
In der 53. Minute fällt der noch umstrittenere zweite Treffer für Bolton. Jack Smiths Goal haften gleich zwei Makel an. Erst habe ein Fan von der Seitenlinie aus Boltons Ted Vizard lanciert, welcher danach für Smith auflegte. Der Unparteiische hat diesen angeblichen Pass nicht gesehen. Und auch das Tor selbst ist umstritten. West Hams Spieler monieren, der Ball sei gar nie hinter der Torlinie gewesen, sondern vom Pfosten ins Feld zurückgeprallt. Der Schiedsrichter behauptet, das Leder sei im Tor gewesen und dann von einem Fan hinter der Torlinie zurück ins Feld gesprungen. Leider gab es auch damals den Videobeweis nicht.
So gewinnt der grosse Favorit Bolton den Titel an diesem denkwürdigen Tag. Zur grossen Figur wird aber nicht ein Torschütze, sondern Billy, das weisse Pferd. Besitzer Scorey werden zudem Tickets für die nächsten Endspiele geschenkt. Er lehnt diese Gabe allerdings ab, da er sich nicht für Fussball interessiere.
Auch wenn Billy heute noch als das «wichtigste Pferd, das je für die Londoner Polizei im Einsatz stand» gewürdigt wird und eine Fussgängerbrücke vor dem Stadion «White Horse» heisst, sind nicht alle glücklich mit dem vermeintlichen Schimmel. West Hams Trainer klagt nach der Partie nämlich: «Dieses weisse Pferd hat mit seinem Getrampel das Spielfeld unspielbar gemacht. Unsere Flügelspieler konnten durch die vielen Löcher im Rasen ihr gewohntes Spiel nicht aufziehen.»
Das Wembley-Stadion hätte ursprünglich nach der British Empire Exhibition 1925 wieder abgerissen werden sollen. Doch Arthur Elvin erwarb den Bau für 127'000 Pfund und übergab es später der Wembley-Organisation. So wurde das Stadion unter anderem von Pelé zur «Kathedrale des Fussballs» ernannt und war Ort des legendären WM-Finals 1966.
Ab 2000 wurde es nicht mehr benutzt und 2003 abgerissen. Aufgrund finanzieller Probleme konnte der Neubau mit 90'000 Sitzplätzen erst 2007 wiedereröffnet werden. Seither dient Wembley wieder als Nationalstadion und Heimat für die FA-Cup-Endspiele.