Es ist ein strahlend blauer Tag in Val d'Isère an diesem Samstag, dem 8. Dezember 2001. Die Sonne scheint, keine Wolke ist zu sehen, der französische Wintersportort präsentiert sich von seiner besten Seite. Doch noch ehe die Sonne hinter den Alpen untergegangen sein wird, sollte aus dem Wintermärchen eines der dunkelsten Kapitel des Schweizer Ski-Rennsports werden.
Mit der Startnummer 14 geht der 22-jährige Silvano Beltrametti ins Rennen. Die Erwartungen an den Bündner sind gross: Er soll den Österreichern ein Schnippchen schlagen und sich seinen ersten Weltcup-Sieg holen. Die Chancen stehen gut, Beltrametti befindet sich in blendender Verfassung.
Der Auftakt ins Rennwochenende von Val d'Isère gelingt Beltrametti ausgezeichnet. Im Super-G vom Freitag fährt er hinter Stephan Eberharter und Didier Cuche auf den starken dritten Rang. Hinterher meint er strahlend: «Ich habe alles falsch gemacht. Statt geduldig zu sein, wie von den Trainern gefordert, bin ich voll auf die Stangen zugerast.» Voller Vorfreude blickt der Sunnyboy auf den kommenden Tag: «Skifahren ist etwas Schönes, wenn man schnell ist. Das ist das beste Doping für die Abfahrt.»
Spätestens seit dem vierten Rang in der WM-Abfahrt von St.Anton ist Silvano Beltrametti die grosse Zukunftshoffnung im Schweizer Herrenteam. Nur um neun Hundertstel verpasste der damals 21-Jährige eine WM-Medaille.
Eine halbe Stunde lang lag der Schweizer auf dem dritten Rang und durfte bereits mit Bronze rechnen, doch mit Startnummer 25 kam der deutsche Nobody Florian Eckert und schnappte ihm das Edelmetall im letzten Moment weg. So knapp der Bündner an der WM 2001 auch am Podest vorbeischrammte, für die Olympischen Spiele in Salt Lake City im Winter 2002 stehen die Vorzeichen auf Medaillengewinn.
Auf Podestkurs ist Silvano Beltrametti auch an jenem 8. Dezember in Val d'Isère. Der Schweizer beginnt stark und ist bei den Zwischenzeiten der Beste. Und er ist schnell. Mit Tempo 120 km/h unterläuft dem Bündner nach eineinhalb Minuten aber eine kleine Unachtsamkeit. Sein Ski gerät ausser Kontrolle.
Beltrametti ist nicht mehr Herr der Lage und donnert geradewegs auf eine Werbebande und die zwei dahinter liegenden Netze zu. Seine Skis, welche für die eisigen Bedingungen besonders scharf geschliffen wurden, zerschneiden die Fangnetze. Beltrametti fliegt über eine Kuppe, rutscht durch eine Geröllhalde und wird schlussendlich von einem Pfosten gebremst.
Am Pfosten liegend finden ihn wenig später die Rettungskräfte. Silvano Beltrametti ist bei Bewusstsein und ist sich über die Schwere seiner Verletzung sofort im Klaren. Gegenüber Cheftrainer Dieter Bartsch, der sofort zur Unfallstelle geeilt ist, sagt er in diesen endlosen Minuten: «Dieter, ich werde gelähmt bleiben. Das weiss ich. Aber ich habe noch andere Probleme. Ich glaub, ich schaff's nicht!»
Bis der Helikopter kommt, dauert es über eine Stunde. Beltrametti wird in den Zielraum geflogen, wo er umgeladen und ins Spital nach Grenoble weitergeflogen wird. Zu diesem Zeitpunkt hat der junge Sportler schon fast aufgegeben: «Ich schaffe es nicht, ich sterbe», so Beltrametti zu seinem Manager und Freund Guisep Fry.
Die Bestürzung in der Ski-Gemeinde ist riesig. Für Abfahrtstrainer Fritz Züger, der Beltramettis Vater die Nachricht überbringen muss, ist es «der traurigste Tag des Lebens.» Der Coach sagt: «Für mich ist Silvano wie ein Sohn, ich habe zu ihm eine ganz besondere Beziehung, ich kann es nicht fassen.»
Die schlimmen Befürchtungen von Silvano Beltrametti bewahrheiten sich zum Glück nicht. Der Bündner zeigt auch neben der Ski-Piste enormen Kampfgeist und beisst sich durch. Er wird überleben, doch die Lähmung bleibt.
Noch am selben Abend spricht Silvano Beltrametti im Spital von Grenoble mit Giusep Fry. Die Worte, welche der junge Mann dabei wählt, können nur von einem wahren Champion stammen: «Ich hatte zwar keine Chance. Aber es gibt doch viele Menschen, denen geht es schlechter als mir.»
Auch wie Beltrametti in der Folge mit seiner Verletzung umgeht, ist bemerkenswert. Ein Hadern mit dem Schicksal gibt es für den Bündner – zumindest nach aussen – nie. Der Blick ist stets nach vorne gerichtet. Im Rahmen der Startnummern-Auslosung der Weltcup-Rennen in der Lenzerheide tritt Beltrametti im März 2002 bereits wieder in die Öffentlichkeit.
Beinahe ein Jahr nach dem verhängnisvollen Rennen kehrt Silvano Beltrametti zusammen mit dem Schweizer Fernsehen und mit seinem Trainer Dieter Bartsch zurück an die Unfallstelle. Dort lehnt er an jenen Pfosten, an dem sein Sturz jäh gebremst wurde. Die Gedanken, welche ihm durch den Kopf gehen, wühlen ihn auf.
Doch Beltrametti bleibt auch in diesem hoch emotionalen Moment der Winnertyp, der er schon immer war. Die Worte, die er an jenem schicksalshaften Ort ausspricht, haben allergrössten Respekt verdient: «Ich komme mir nicht arm vor. Ich komme mir in meiner Seele, in meinem Geist gestärkt vor. Ein Stück stärker als vorher. Der Preis, den ich dafür bezahlt habe, ist brutal hoch: Ich kann nicht mehr laufen. Ich muss mich ein Leben lang im Rollstuhl zurecht finden.»