«Am Start standen acht Fahrer, die ich zuvor nie geschlagen hatte. Mein Ziel konnte also nur ein Ehrenplatz unter den ersten zehn sein.» Natürlich kann sich der damals 21-jährige Russi keine grösseren Chancen ausrechnen, gelingt ihm doch erst einen knappen Monat vor der EM die Punkte-Premiere im Weltcup.
Zudem steht die Abfahrt für den Nachwuchsfahrer unter einem schlechten Stern: Bei einem Skitest einige Tage früher bricht er sich das Handgelenk, im Training kann er nur mit einer Manschette fahren. Doch Russi ist schon damals eine Kämpfernatur: «Erst habe ich mir gedacht, jetzt ist die Sache gelaufen. Aber die WM war halt eine einmalige Sache.»
Der über Nacht gefallene Neuschnee krempelt die Bedingungen auf der berüchtigten Saslong völlig um – am schlechtesten gehen die Schweizer Favoriten damit um. Sowohl Jean Dätwyler als auch Söre Sprecher können nicht mit den Schnellsten mithalten.
«Die Niederlage für uns Schweizer schien besiegelt», gesteht Russi später. Doch dann gelingt seinem Trainer Paul Berlinger ein Meisterstück der besonderen und unspektakulären Art: In letzter Minute kratzt er das gesamte Wachs von Russis Ski.
Mit der Startnummer 15 geht Russi ins Rennen – und fährt mit seinen zwei neu präparierten Brettern alle Konkurrenten in Grund und Boden. Die Löcher und Gräben zu Beginn meistert er problemlos, bei den Kamelbuckeln springt er so weit wie keiner zuvor. In der Ciaslat wird ihm sein Höllenritt erstmals bewusst: «Ich habe gespürt, dass etwas ganz Spezielles passiert.»
Im Ziel schreit ihm sein jüngerer Bruder Manfred «Bestzeit» entgegen, Russi ist völlig baff: «Es war der emotional stärkste Augenblick in meinem sportlichen Leben.»
Nach Russi wird die Piste immer schneller, und der WM-Debütant muss noch einige lange Minuten zittern und bangen. Doch keiner kommt mehr an die Zeit des Andermatters heran, und die Gratulantenschlange wächst und wächst.
Der frischgebackene Weltmeister ist von dem ganzen Trubel restlos überwältigt. So fällt ihm erst Stunden später bei einem Interview mit dem ORF auf, dass die Schnallen seiner Skischuhe immer noch auf «Rennposition» gestellt sind und ihm das Blut abschnüren.
Endlich zurück auf seinem Zimmer, will sich Russi für die Siegerehrung im Eisstadion von St.Ulrich bereitmachen, findet aber seine Kleider nicht mehr. Die Erklärung: Die Schweizer Teamverantwortlichen haben wohlweislich seinen Anzug bereits eingepackt und in den Grödner Hauptort gebracht – wer hätte auch einen Podestplatz des Youngsters erwartet?
Also muss Russi in einem vom Teamkollegen geliehenen, um zwei Nummern zu kleinen Anzug seine erste WM-Medaille entgegennehmen.
Im Verlaufe seiner Karriere folgen noch zwei weitere WM- und zwei Olympiamedaillen, dazu zehn Weltcupsiege. Mittlerweile sitzt auch der Anzug.