Solltet ihr euch jemals in einem Seminar für mentale Stärke befinden, in einem stickigen Gruppenraum mit 15 anderen mehr oder minder motivierten Teilnehmern, und solltet ihr vom Kursleiter gefragt werden, ob ihr euch denn an ein Beispiel für Nervenstärke erinnern könnt, dann sagt wie aus der Pistole geschossen: «Djokovic, Halbfinal gegen Federer, US Open 2011.»
Es ist, in der Tenniswelt mit Garantie, aber wohl über alle Sportarten gesehen, der Moment, der aufzeigt, zu was die menschliche Psyche fähig ist. Über drei Stunden sind im epischen Halbfinal des US Open 2011 bereits gespielt. Roger Federer hat gegen Novak Djokovic beim Stand von 7:6, 6:4, 3:6, 2:6, 5:3 zwei Matchbälle, er liegt bei eigenem Aufschlag mit 40:15 vorne, muss lediglich einen der beiden auf dem Silbertablett bereitliegenden Punkte buchen.
Soweit kommt es aber nicht – die Schweizer Fans im Arthur Ashe Stadium in Flushing Meadows sind der Verzweiflung verständlicherweise nahe.
Djokovic retourniert Federers Aufschlag mit vollem Risiko und holt sich so einen spektakulären Winner. Nicht nur der Schweizer schüttelt auf dem Platz ungläubig den Kopf. John McEnroe bezeichnet die Aktion als: «Einer der grössten Schläge aller Zeiten.» So viel Risiko bei so einem wichtigen Ball – das macht sonst niemand. «Mit einem einzigen Schlag hat alles gewechselt. Es ist seltsam, wie es manchmal geht», wird Federer nach der Partie sagen.
Ob der Return Glück, Risiko oder Selbstvertrauen war, wird der Schweizer danach auch gefragt. Dieser ist ziemlich angesäuert und hat für Djokovic keine guten Worte übrig. Offen wie selten äussert er seine Gefühle für die Spielweise des Serben:
Doch zurück zum Spiel. Beim zweiten Matchball kommt dem Serben die Netzkante zu Gute, kurze Zeit später ist das Break perfekt. Danach gleicht der damals 24-Jährige bei eigenem Service zum 5:5 aus, breakt Federer gleich noch einmal und setzt sich mit 7:5 im fünften Satz durch.
Sein drittes Finale am US Open nach 2007 und 2010 ist Tatsache, er wird in New York zwei Tage später den persönlich vierten Major-Titel holen und eine grosse Karriere so richtig lancieren. So sitzt der Maestro wenig später vor der versammelten Presse und sagt: «Noch kurz vor Matchende glaubte ich mich vor dem Sieg; nun sitze ich hier und erkläre, warum ich verloren habe.»
In der Karriere von Roger Federer bedeutet diese bittere Halbfinal-Niederlage so etwas wie einen Knick. Erstmals seit 2003 beendet er ein Jahr ohne Major-Erfolg. Nach zuvor 16 Grand-Slam-Titeln kommt nach diesem Ausscheiden lange nur noch ein weiterer Major-Erfolg hinzu, 2012 gewinnt der Schweizer in Wimbledon. Es dauert bis 2017, ehe Federer seine Titel 18, 19 und 20 holt (Australian Open 2017 und 2018, Wimbledon 2017).
Doch zurück zu Novak Djokovic. Der Serbe gewinnt wie erwähnt das US Open 2011 – im Finale schlägt er Rafael Nadal in vier Sätzen und revanchiert sich so für die Niederlage ein Jahr zuvor an gleicher Stätte. Djokovic entscheidet im Kalenderjahr 2011 nach dem Australian Open und Wimbledon sein drittes Major-Turnier für sich.
Der 1,88 Meter grosse Rechtshänder entwickelt sich in den folgenden Jahren zum grossen Dominator auf der Tour. Er führt seine Gegner regelrecht vor, mutiert zum übermächtigen Gegner und vor allem sammelt er Titel wie andere Briefmarken. Mit seinem 23. Grand-Slam-Titel wurde er am French Open 2023 zum alleinigen Rekordhalter in dieser Kategorie – vor Nadal (22) und Federer (20).
Seine Nervenstärke kommt dabei immer wieder zum Vorschein und mündet regelmässig in unglaublichen Returns. Tennisexperte Heinz Günthardt sagt denn auch anerkennend: «Djokovic ist der beste Return-Spieler der Welt.»
Bei solch einer Vielzahl an Erfolgen neigt der Sportler dazu, sich stets höhere Ziele zu setzen. Bei Novak Djokovic ist der angestrebte Grand Slam eines, bis heute hat er es jedoch nicht geschafft, alle vier Grand Slams in einem Kalenderjahr zu gewinnen. Der Australier Rod Laver bleibt bei den Männern der vorerst letzte Tennisspieler, dem dies gelang (1962 und 1969).
Den Karriere-Slam – alle vier Grand Slams zu gewinnen – hat Novak Djokovic jedoch erreicht. Ausserdem gelang es ihm, vier Grand Slams in Serie zu gewinnen. Im Juni 2020 war der Serbe nach zuvor drei Finalniederlagen am French Open erstmals erfolgreich und so gleichzeitig Besitzer aller vier Trophäen. Roger Federer, als grosser Sportsmann bekannt, war einer der ersten Gratulanten: «Jetzt hat er alle vier Grand Slams am Stück gewonnen. Das ist Weltklasse. Er hat das ohne Glück geschafft.»
Der 10. September 2011 – ein Datum für jedes Mental-Seminar und ein Wendepunkt zweier Karrieren.