Die Radsportexperten des niederländischen Senders NOS sind schockiert: Ein erschrecktes «Hoooo!» entfährt beiden, als der US-amerikanische Radprofi George Hincapie über den Lenker fliegt und zu Boden geht.
Es ist der 9. April 2006, als Hincapie durch den Sturz seine Hoffnungen auf einen Sieg bei der «Königin der Klassiker», dem Tagesrennen Paris-Roubaix, begraben muss und seiner an Unfällen reichen Karriere einen weiteren Crash hinzufügt. Sein Gabelschaft ist der Tortur auf dem Kopfsteinpflaster-Abschnitt Mons-en-Pévèle nicht gewachsen und bricht. Er fährt noch ein paar Meter freihändig, dann stellt sich sein Vorderrad quer und Hincapie stürzt kopfüber auf einen angrenzenden Acker.
Hincapie krümmt sich auf dem Boden, schaut den anderen Fahrern hinterher und hält sich das schmerzverzerrte Gesicht. Bereits kurz nach dem Rennen sagt sein Discovery-Channel-Teamdirektor Dirk Demol: «Es ist eine schwere Verletzung, das ist sicher.»
Später kommt heraus: Bei dem Sturz hat sich Hincapie eine drei Zentimeter lange Fraktur zwischen Schlüsselbein und Schulterblatt zugezogen, die ihn zu einer mehrwöchigen Pause zwingt.
Hincapie, der seine stärksten Karriere-Auftritte als Edelhelfer von Lance Armstrong bei der Tour de France hat, 2012 aber Doping-Missbrauch gesteht, schmerzt neben den physischen Verletzungen auch die Tatsache, erneut einen Sieg beim Paris-Roubaix-Klassiker zu verpassen: Er liegt kurz vor dem Sturz knapp 50 Kilometer vor dem Ziel in aussichtsreicher Position und gilt als Mitfavorit auf den Sieg. Der Radprofi bezeichnet Paris-Roubaix als seinen Lieblingswettkampf: «Das ist das Rennen, von dem ich das ganze Jahr über träume und auf das ich mich freue.»
Doch ein Sieg ist ihm hier noch nie vergönnt gewesen. Mal stürzte er, mal kam er mit dem Wetter nicht klar oder hatte mit Defekten zu kämpfen. Auch 2006 muss er zusehen, wie der Schweizer Fabian Cancellara am Ende jubelt. Hincapies bestes Ergebnis bei Paris-Roubaix ist ein zweiter Platz aus dem Jahr 2005, als er Tom Boonen im Sprint unterlag.
Als Ursache des Lenkrohr-Bruchs macht Hincapies Discovery-Team später einen vorangegangenen Unfall des US-Amerikaners in der ersten Hälfte des Rennens aus. «George stürzte schon recht früh im Rennen, aber aufgrund der Rennbedingungen und seiner Aussage, dass alles in Ordnung sei, haben wir sein Rad nicht gewechselt», sagt Discovery-Teamchef Johan Bruyneel.
Hincapies Sturz entfacht eine Debatte um die langen Kopfsteinpflaster-Abschnitte des Klassikers. Viele schimpfen über den Untergrund, bezeichnen ihn als veraltet, zudem seien die technischen Herausforderungen für die Teams zu hoch. Auch Bruyneel sagt: «Auf den vielen Kopfsteinpflaster-Passagen war der Lenker so starken Erschütterungen ausgesetzt, dass er sich nach dem ersten Sturz irgendwann lösen musste.»
Besonders bitter: Kurz vor dem Sturz informiert Hincapie sein Team doch noch über Probleme mit dem Lenker und die Helfer arbeiten an einem Plan, um einen Radaustausch ohne grösseren Zeitverlust vorzunehmen.
Doch er kommt nicht mehr rechtzeitig. Und so enden Hincapies Siegträume auf einem Acker.