Mitte und Ende der 80er-Jahre ist Pirmin Zurbriggen der überragende Skifahrer. An den WM 1985 («Knie der Nation») und 1987 gewinnt er je zwei Goldmedaillen und dazu noch drei silberne. Und im vor-olympischen Winter 1986/87 staubt er fast alle Kristallkugeln ab: Die grosse für den Gesamtweltcup und die kleinen für die Siege in den Disziplinenwertungen für Abfahrt, Super-G, Riesenslalom und Kombination. Nur jene im Slalom geht an den Jugoslawen Bojan Krizaj.
Zurbriggens grösster Rivale in dieser Zeit kommt aus dem eigenen Lager: Peter Müller. Der Zürcher hat gegen die vielen Bergler – den Walliser Zurbriggen, den Bündner Dani Mahrer, den Toggenburger Karl Alpiger oder den Innerschweizer Franz Heinzer – oft einen schweren Stand. Müller ist unbeliebt, ein Aussenseiter, aber auf der Piste lässt er Taten sprechen. 1987 wird er bei den Schweizer Festspielen in Crans-Montana Abfahrts-Weltmeister, 1984 in Sarajevo holte er hinter Überraschungssieger Bill Johnson Olympia-Silber. Nun will «Pitsch» Müller Gold.
Der Adliswiler Müller hatte im Winter zuvor die Olympia-Hauptprobe auf der Piste in Nakiska gewonnen – vor Heinzer, Mahrer und Alpiger, Zurbriggen wurde nur 11. In den Trainings vor Olympia hinterlässt Zurbriggen jedoch einen bestechenden Eindruck. Er gilt als Topfavorit, als derjenige, den es zu schlagen gilt.
Auf dem selektiven Kurs gelingt Zurbriggen dann tatsächlich auch im Rennen eine grandiose Fahrt. Sein «Meisterstück» nennt es die NZZ. Müller legt mit Startnummer 1 vor, jeder Gegner beisst sich an seiner Zeit die Zähne aus. Doch nun steht Zurbriggen im Starthaus. 3147 Meter trennen ihn von der Unsterblichkeit. 3147 Meter, auf denen Müller hoffen darf, dass seine Bestzeit vielleicht auch dem Angriff des Fanlieblings mit dem schwarzen Helm Stand hält.
Doch Müller hofft vergeblich. Auf jedem einzelnen Streckenabschnitt ist Pirmin Zurbriggen der schnellste Fahrer: im steilen Gelände wie in den kurvenreichen Abschnitten und auf der Gleitpassage. Der an sich ruhige Zeitgenosse wirkt aggressiv wie nie, es gibt nur eines für ihn: Gold. Als die Uhr im Ziel bei 1:59,63 Min. stoppt, hat Zurbriggen sein grosses Ziel erreicht: Er ist Olympiasieger. Müllers Zeit unterbietet er um 51 Hundertstel. Kein anderer Sieg habe ihn mit derart tiefer Genugtuung erfüllt wie dieser hier, lässt der 25-jährige aus Saas-Almagell die Reporter wissen.
Und Verlierer Müller? Den beobachten die Journalisten, wie er zerknirscht am Zaun lehnt, mit versteinerter Miene. «Im ersten Moment schien für ihn die Silbermedaille jeden Wert verloren zu haben», notierte die NZZ. «Mit zunehmender Dauer fand der Zürcher die Fassung, begann Freude zu zeigen.» Zu Recht, denn auch Müller liess die Konkurrenz weit hinter sich: Bronzemedaillen-Gewinner Franck Piccard aus Frankreich nahm er über eine Sekunde ab.
Nur einer ist an diesem Tag in Nakiska halt noch schneller: Der Ski-Nationalheilige Pirmin Zurbriggen, der 1990 als erst 27-Jähriger zurücktreten wird. Als Olympiasieger, vierfacher Weltmeister, vierfacher Gesamtweltcup-Sieger und Gewinner von 40 Weltcuprennen, als Sieger von Rennen in jeder Disziplin.
«Wenn du hundert oder zweihundert Mal hörst, dass das noch fehlt in deinem Palmarès, dann bekommt es eine Bedeutung, du spürst einen gewaltigen Druck», betont Zurbriggen 2021 in einem Gespräch mit der «NZZ am Sonntag». Er sei wirklich froh, dass er es geschafft habe und Abfahrts-Olympiasieger geworden sei: «Heute muss ich sagen: Ja, wenn ich das nicht gepackt hätte, hätte etwas gefehlt. Dann hätte ich auch nicht 1990 mit 27 Jahren aufgehört. Die Abfahrtspiste von Albertville 1992 wäre ja für mich prädestiniert gewesen. Ich hätte mir gesagt: Diese Chance musst du wahrnehmen. Aber ich hatte schon Gold in der Hand, ich hätte fast nur verlieren können.»
Wie gut Zurbriggen war, verdeutlicht auch diese Tatsache: Die Vereinigung der Ski-Journalisten ehrte ihn vier Mal mit dem «Skieur d'Or» für den herausragenden Athleten des Winters. Erst der Österreicher Marcel Hirscher schaffte es, die Auszeichnung ebenfalls vier Mal zu gewinnen.