Sport
Unvergessen

17.6.1970: Das Jahrhundertspiel zwischen Italien und Deutschland

Die Highlights der Partie.Video: YouTube/lebuteur
Unvergessen

Fehler und Beckenbauers an den Körper geklebter Arm sorgen für Jahrhundertspiel

17. Juni 1970: Keine Sieger. Keine Besiegten. Deutschland verliert das WM-Halbfinale 1970 in Mexiko gegen Italien 3:4 nach Verlängerung. Ein WM-Jahrhundertspiel vor 102'444 Zuschauern.
17.06.2023, 00:0116.06.2023, 15:34
Folge mir
Mehr «Sport»

Die Legende wird geboren, kaum dass der grosse Kampf zu Ende ist. Im Banne des dramatischen Geschehens prophezeit ein mexikanischer TV-Reporter mit Pathos in der Stimme: «Dieses Spiel geht in die Geschichte ein. Man wird im Stadion eine Gedenktafel anbringen, auf der Italien und Deutschland steht und das Datum vom 17. Juni 1970. Aber man wird kein Resultat nennen. Denn das Spiel hatte keinen Sieger und keinen Besiegten.»

ZUR FIFA FUSSBALL WELTMEISTERSCHAFT 2014 IN BRASILIEN STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIAL ZU DEN WELTMEISERSCHAFTEN 1970 IN MEXIKO UND 1974 IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND ZUR VERFUEGUNG – Mit  ...
Bild: KEYSTONE

Keinen Sieger, keinen Besiegten? Von wegen. Gerd Müller wird noch Jahrzehnte später sagen: «So ein Spiel kriegt man nicht mehr aus dem Kopf. Ich könnte heute noch wahnsinnig werden. Von dieser Schlappe gegen die Italiener erhole ich mich nie.» Und Franz Beckenbauer schreibt schon 1975 in seiner Autobiographie («Einer wie ich»), die Bezeichnung «Jahrhundertspiel» sei übertrieben.

So viele Fehler wie sonst während einer Saison

Gerd Müller und Franz Beckenbauer haben gar nicht so unrecht. Das «Spiel des Jahrhunderts» ist ein Spiel, das in erster Linie von Fehlern lebt. Wie können zwei Dutzend der besten Spieler der Welt während zwei Stunden mehr Fehler machen als während einer ganzen Saison? Vor allem aber: Ein Spiel, das nicht von Franz Beckenbauers, des Kaisers Genialität inspiriert ist, soll das «Spiel des Jahrhunderts» sein?

Aber der Mythos lebt. Er gründet vor allem darin, dass das Spiel sich zu einem Drama mit absehbar tragischem Ende entwickelt. Das Schicksal der Deutschen ist nämlich längst besiegelt als sie noch dagegen ankämpfen. Mit einem blessierten Leitwolf.

Der «Evening Standard» sieht in Franz Beckenbauer in der englisch-martialischen Reportersprache einen «verwundeten, besiegten, aber stolzen preussischen Offizier». Dabei ist Beckenbauer ein Bayer und kein Preusse.

Deutschland – Italien 3:4 n.V. (0:1, 1:1)
Tore: 8. Boninsegna 0:1. 90. Schnellinger 1:1. 94. Müller 2:1. 98. Burgnich 2:2. 104. Riva 2:3. 110. Müller 3:3. 111. Rivera 3:4.
Deutschland: Sepp Maier – Berti Vogts, Willi Schulz, Karl-Heinz Schnellinger, Bernd Patzke (63. Sigfried Held) – Uwe Seeler, Franz Beckenbauer, Wolfgang Overath – Jürgen Grabowski, Gerd Müller, Hannes Löhr (53. Reinhard Libuda)
Italien: Enrico Albertosi – Tarcisio Burgnich, Pierluigi Cera, Roberto Rosato (91. Fabrizio Poletti), Giacinto Facchetti – Mario Bertini, Sandro Mazzola (45. Gianni Rivera), Giancarlo De Sisti – Angelo Domenghini, Roberto Boninsegna, Luigi Riva

Beckenbauer mit kaputter Schulter und Armschlinge

Es rührt in diesem «Jahrhundert-Spiel» ans Herz, wie Franz Beckenbauer, der geniale Fussballkünstler, schon damals der Inbegriff der Leichtigkeit des Seins, nach einem schweren Foul von Pierluigi Cera 50 Minuten lang nur mit halber Kraft und mehr mit dem Gleichgewicht als mit dem Gegner kämpfend, sich unter der glühenden Sonne übers Spielfeld plagt.

Sonst entfesselt, jetzt aber den rechten Arm mit Klebeband am Körper fixiert um das gesprengte Schulter-Eckgelenk halbwegs ruhig zu stellen. Die Hand aufs Herz gebunden. Der Gentleman am Ball als Schmerzensmann.

Animiertes GIFGIF abspielen
Franz Beckenbauer spielte 50 Minuten mit einer kaputten Schulter.Gif: Youtube/Fussball ist unser Leben

Fast tatenlos muss Franz Beckenbauer ansehen, wie die Italiener immer noch einen drauf setzen. Gerade hat Gerd Müller eine riskante Rückgabe von Fabrizio Poletti mit der Fussspitze zur 2:1-Führung an Enrico Albertosi vorbei ins Tor gelenkt, da schiesst Tarcisio Burgnich nach einem unfassbaren Fehler von Siggi Held den Ausgleich. Wiederum fünf Minuten später schiesst Luigi Riva das 2:3. Er lässt Karl-Heinz Schnellinger stehen.

Animiertes GIFGIF abspielen
Das 2:1 durch Müller. Ein typisches Müller-Tor.Gif: Youtube/Fussball ist unser Leben

Als Deutschland noch feiert, trifft Italien zur Entscheidung

Keiner wagt mehr an den erneuten Ausgleich zu denken. Da besorgt Gerd Müller das 3:3. Im Hechtsprung nach einer Flanke von Reinhard Libuda. Es ist Müllers zehnter und letzter Treffer bei dieser WM. Italiens Regisseur Gianni Rivera beisst, wie Fotos dokumentieren, vor lauter Wut ins Tornetz.

Animiertes GIFGIF abspielen
Das 3:3 durch Müller.Gif: Youtube/Fussball ist unser Leben

Losentscheid weil es auch nach Verlängerung noch 3:3 steht? Nein. Rivera selbst schiesst eine Minute später die Italiener ins Finale. Weil die Deutschen im Freudentaumel über das wundersame 3:3 die Defensive vernachlässigen. «Es wurden immer in den Momenten Fehler gemacht, in denen wir glaubten, das Spiel in der Hand zu haben», wird Bundestrainer Helmut Schön hinterher klagen. Auf der linken Seite ist Willi Schulz von Roberto Bonisegna ausgespielt worden und Rivera steht mausbeinalleine auf dem Elfmeterpunkt und trifft an Sepp Maier vorbei 4:3.

Animiertes GIFGIF abspielen
Das 4:3 durch Rivera, nur eine Minute nach dem 3:3.Gif: Youtube/Fussball ist unser Leben

Über Schiri wird geschimpft, aber nur dank ihm kam es zur Verlängerung

Hinterher wird über den Schiedsrichter geschimpft. Arturo Yamasaki, der Peruaner mit japanischem Pass, habe zwei klare Elfmeter (Fouls gegen Franz Beckenbauer und Uwe Seeler) nicht gegeben. Allerdings wären die Deutschen gar nicht in die Verlängerung gekommen und das Spiel des Jahrhunderts würde es nicht geben, wenn Yamasaki nicht vier Minuten hätte nachspielen lassen.

Ausgerechnet Karl-Heinz Schnellinger, damals im Dienste des AC Mailand, nützt die gnädig geschenkte Zeit, um Roberto Bonisegnas 0:1 zu egalisieren. Buchstäblich im letzten Augenblick befördert der Abwehrspieler bei seinem einzigen Ausflug in die gegnerische Spielhälfte eine Flanke von Jürgen Grabowski grätschend zum 1:1 über die Linie.

Animiertes GIFGIF abspielen
Das 1:1 durch Schnellinger.Gif: Youtube/Fussball ist unser Leben

Schon unmittelbar nach dem Spiel umkränzt der Glorienschein die Helden und lässt Sieger wie Besiegte glänzen. Es spielt keine Rolle, wer Tore erzielt, wer welche kassiert, wer Fehler gemacht hat und wer nicht. Es die einzige WM-Partie ohne Sieger und Besiegte. Ein Jahrhundert-Spiel eben.

Die Italiener gehen im Finale kraftlos gegen Brasilien 1:4 unter. Die Deutschen holen mit einem 1:0 gegen Uruguay den dritten Platz.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Von 1966 bis 2022 – alle Maskottchen der Fussball-WM
1 / 18
Von 1966 bis 2022 – alle Maskottchen der Fussball-WM
Seit dem Turnier 1966 in England sind Maskottchen unverzichtbare Begleiter von Fussball-Weltmeisterschaften. Die Übersicht:
quelle: keystone / natacha pisarenko
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Es tut jetzt noch weh» – unsere ersten WM-Erinnerungen
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
3 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Rikki-Tiki-Tavi
17.06.2023 08:35registriert April 2020
Ich liebe diese Serie „unvergessen“. Sie weckt Emotionen und bringt Hintergrundinformationen. Vielen Dank dafür.
210
Melden
Zum Kommentar
3
Josi bei Preds-Sieg weiter on fire – Fiala und Moser treffen ebenfalls
Roman Josi zeigt einen weiteren eindrücklichen Auftritt in der NHL und sichert den Nashville Predators mit zwei Toren den 4:1-Sieg in Seattle. Auch Kevin Fiala und Janis Moser treffen.

Im letzten Drittel machte Josi den Unterschied. Der Berner Verteidiger erzielte das 2:1 im Powerplay und das 3:1 mit einem Schuss von der blauen Linie fast unmittelbar nach einem Bully. «Das ist der Grund, weshalb er – meiner Meinung nach – der beste Verteidiger der Welt ist», meinte Nashvilles Coach Andrew Brunette nach dem Match. «Er macht einfach solche Dinge wie heute und entscheidet Spiele. Dank seiner Qualität und seinem Leadership können wir uns immer auf ihn stützen.»

Zur Story