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«Du bist schuld – woran, weiss ich nicht»: Wenn der Zorn der Kinder die Eltern (scheinbar) ohne Grund trifft

An allem Schuld: Wenn Kinder die Eltern grundlos anschnauzen.
An allem Schuld: Wenn Kinder die Eltern grundlos anschnauzen.bild: shutterstock
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«Du bist schuld – woran, weiss ich nicht»: Wenn der Zorn der Kinder die Eltern (scheinbar) ohne Grund trifft

Wer den Zorn seiner Kinder heraufbeschwört, sollte vielleicht in Deckung gehen. Oder herausfinden, was das Ganze soll.
24.06.2015, 22:0517.09.2015, 11:21
nils pickert / wir eltern
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«Du weisst genau warum, Papa!» Meine zehnjährige Tochter funkelt mich bitterböse über den Rand ihrer Brille an und schürzt voller Abscheu die Lippen. Ich habe keine, aber wirklich überhaupt keine Ahnung, was ich gemacht haben soll. Die Situation stellt sich wie folgt dar: In meinem Wohnzimmer steht eine zornige kleine Rachegöttin und ich weiss nicht, wie genau ich mir ihren Zorn zugezogen habe. 

Eigentlich hatten wir ein prima Wochenende. Ausschlafen, gutes Essen, tolles Wetter, spannender Film, keinen Streit. Eben war sie mit ihrem Bruder eine ganze Stunde draussen spielen. Nationen erschaffen, Flüsse aus den Betten heben, Jahreszeiten beeinflussen – was ein Geschwistergötterpaar eben so macht. Das übliche Tagwerk. 

Jetzt auf

Angeschnauzt aus dem Nichts

Aber kaum ist sie drin, werde ich erstmal aus dem Nichts angeschnauzt. Gut, man könnte natürlich argumentieren, dass dies das Vorrecht von wankelmütigen Gottheiten ist und dass ich froh sein kann, wenn gerade kein Staub in der Wohnung liegt, in den ich hätte geworfen werden können. Dem allmächtigen Staubsauger sei Dank. Ich finde es aber trotzdem doof. 

In meiner Erinnerung haben sich Eltern grundsätzlich für gar nichts entschuldigt, weil ein unüberwindliches Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen bestand.
Nils Pickert

Nicht, dass wir uns missverstehen: Es geht mir nicht darum, dass meine Kinder nicht sauer auf mich sein dürfen. Ich baue oft genug Mist, bin ungeduldig, fahre aus der Haut, höre nicht genug zu, verhalte mich inkonsequent. Ich finde Kinder verdienen und brauchen das Recht, ihre Eltern auf ihre Fehler hinzuweisen und eine Entschuldigung zu verlangen. 

Eltern haben sich früher für nichts entschuldigt

Vielleicht weil ich aus einer Zeit und einem versunkenen Land (Deutsche Demokratische Republik genannt) stamme, in der das überhaupt nicht üblich war. In meiner Erinnerung haben sich Eltern da grundsätzlich für gar nichts entschuldigt, weil ein unüberwindliches Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen bestand, in dem selbst die schlechteste Entscheidung der Erwachsenen scheinbar immer noch reifer, besser und wertvoller zu sein hatte als die beste Entscheidung der Kinder.

Vielleicht bin ich auch da ein Kindskopf. Aber, Mann ey, ich hab nichts gemacht. Wenn ich so angeranzt werde, dann will ich wissen, warum und womit ich das verdient habe.
Nils Pickert

Bestenfalls waren die nett oder niedlich. Vielleicht sogar im Sinne der Eltern (ganz grosses Lob). Und gerüchteweise hörte man von anderen Kindern, dass deren Eltern ihre Entscheidungen wohl auch schon mal «klug» genannt hätten, aber darauf haben wir nichts gegeben. 

Meine Entscheidungen sind jedenfalls mitnichten immer reifer als die meiner Kinder, im Gegenteil: Ich kann mich ohne weitere Schwierigkeiten erstaunlich unreif aufführen. Sinnlos Recht haben wollen, andere mit meiner Langeweile nerven, Telefonate aufschieben, die ich schon vor Wochen hätte führen sollen (immerhin hat Mutter um einen Rückruf gebeten). Alles gar kein Problem für mich. Und wenn ich in diesen Unfug meine Kinder mit reinziehe und/oder sie darunter zu leiden haben, dann verdienen sie, dass ich sie um Verzeihung bitte. Das bricht mir keinen Zacken aus der Vaterkrone. 

«Tu doch nicht so!»

Aber dieser Fall liegt anders. Vielleicht bin ich auch da ein Kindskopf. Aber, Mann ey, ich hab nichts gemacht. Wenn ich so angeranzt werde, dann will ich wissen, warum und womit ich das verdient habe. Also erdreiste ich mich, dezent nachzuhaken: «Ähm, was genau habe ich denn gemacht?» – «Tu doch nicht so!», donnert die Rachegöttin. 

Wann ist die eigentlich so in die Höhe geschossen? Oder fange ich etwa schon an zu schrumpfen? Ich bemerke, dass in mir allmählich ein «Jetzt langt es mir aber!»-Gefühl aufkeimt. Wer hat hier ohne mich verfügt, dass ich zum Deppen gemacht werde und wieso? Ich muss mir das weder gefallen lassen noch hier weiter in den Altarräumen dieser zornesroten Tochtermacht rumhängen. 

Erstmal ein bisschen Ruhe

«Du kannst mich mal gerne haben», sage ich und gehe. Immerhin ist sie alt genug, mir in ihrer Wut nicht nachzulaufen, um mir ins Gesicht zu brüllen, ich solle sie gefälligst in Ruhe lassen. In dieser Disziplin erlangt die Brudergottheit gerade unerreichte Meisterschaft. Hinter mir her trotten und aus vollem Hals «Geh mir nicht immer nach!» schreien. Ich habe also erstmal ein bisschen Ruhe. 

«Manchmal bin ich unglaublich wütend auf dich, Papa, und es fühlt sich so an, als hätte ich einen Grund. Aber dann weiss ich in Wirklichkeit gar keinen.»
Nils Pickerts Tochter

Eine Stunde später ist der Zorn der Göttin verraucht und ihr Geist richtet sich auf andere Dinge. «Papa, bringst du mir meine Haarbürste?» Ich könnte das jetzt auf sich beruhen lassen. Will ich aber nicht. Wie gesagt: Wenn, dann will ich es verdient haben. «Du verwechselst mich wohl mit jemandem, den du nicht grundlos angeschnauzt und zusammengefaltet hast?!» Sie startet noch einen kurzen Versuch, sich in Harnisch zu bringen. 

Aber dann ist gut

Aber dann setzen wir uns doch raus in die Abendsonne und reden drüber. «Manchmal bin ich unglaublich wütend auf dich, Papa, und es fühlt sich so an, als hätte ich einen Grund. Aber dann weiss ich in Wirklichkeit gar keinen.» Ich könnte jetzt zu einem langen, elterlichen Erklärungssermon ansetzen. Präpubertät und so weiter und warum ich das nicht verdient hätte. Aber ich lasse es. 

Stattdessen nehme ich sie in den Arm. «Kann passieren», sage ich. «Wird es wohl in Zukunft auch noch häufiger, weisst du ja. Aber du und ich, wir sind ja wohl immer noch der Plan, oder?» «Auf jeden Fall» erwidert sie und strahlt. Meine Güte, ist die gewachsen. Und ich bin vielleicht auch gar nicht so sehr geschrumpft, wie ich gedacht hätte. Gut so.

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