Die Welt ist klein. In der Schweiz im Allgemeinen, in Davos im Besonderen. Und wenn die grosse weite Welt nach Davos kommt, dann treffen im wahrsten Sinne des Wortes Welten aufeinander. So wie bei der jährlichen Demonstration gegen das Weltwirtschaftsforum (WEF).
Im vergangenen Jahr stand auf der einen Seite ein Grüppchen von 30 Protestierenden, mit kreideweissen Gesichtern und Blutspuren um den Mund, als Zombies geschminkt. Zuvorderst Rolf Marugg, Dokumentalist und Davoser Lokalpolitiker, der seit 2004 die Bewilligung für die Demonstration gegen das WEF einholt. Auf den ersten Blick würde man dem schmächtigen 43-Jährigen nicht geben, dass er Bauernsohn und Landwirt mit eidgenössischem Fachausweis ist.
Auf der anderen Seite standen 3000 Armeeangehörige und über 1000 schwer bewaffnete Polizisten. Im Hintergrund Urs Nutt, seit 26 Jahren verantwortlich für den Personenschutz am World Economic Forum in Davos. Der breitschultrige Nutt ist auch Chef der Verhandlungsgruppe der Kantonspolizei Graubünden, also in Gesprächsführung, Psychologie und Deeskalation speziell ausgebildet.
Kurz vor der WEF-Eröffnung 2015 stapft Rolf Marugg durch den Schnee zu seinem neuen Bienenhaus und erzählt, wie er und der Personenschutz-Chef sich nochmals begegneten. Marugg ist nämlich auch Imker und Betriebsprüfer, der Bienenzüchter auf artgerechte Bienenhaltung und vorschriftsgemässe Honigverarbeitung kontrolliert. Weil bei diesen Kontrollen schon mal Imker die Beherrschung verlieren, musste er ein Konfliktbewältigungsseminar des Bündner Bienenzüchterverbandes absolvieren.
Im weissen Imker-Overall des Konfliktbewältigungsinstruktors steckte ausgerechnet Personenschutz-Chef Urs Nutt, selbst ein leidenschaftlicher Imker. Als Nutt den Seminarteilnehmern die eher rhetorisch gemeinte Frage stellte, ob jemand die «3-D-Strategie» kenne, hielt Marugg sofort die Hand hoch und erklärte, «die 3 D stehen für Dialog, Deeskalation und Durchgreifen».
Der Personenschutz-Chef fragte verblüfft, wo ein angehender Betriebsprüfer für Imker dieses Wissen erworben habe. Als Marugg trocken erklärte, dass er jedes Jahr die WEF-Demo organisiere und deshalb die Polizeistrategie aus eigener Anschauung kenne, war es einen Moment still im Ausbildungsraum. Rolf Marugg schmunzelt. «In unserer kleinen Welt muss man nach dem Streiten wieder zusammen ein Bier trinken können, sonst wird es schwierig.»
14 Jahre vor dieser Begegnung war nicht nur das WEF gross, sondern auch die Bewegung gegen die «Fat Cats in the Snow», wie Rocksänger Bono das Treffen der 2500 Wirtschaftsbosse und Politiker nannte. Im Januar 2000 marschierten über 1000 Demonstranten durch Davos und zerschmetterten unter anderem die Schaufenster der lokalen McDonald’s-Filiale.
Der kulinarische Verlust hielt sich in Grenzen. Der Sachschaden überstieg aber das, was man in Davos hinzunehmen bereit war. Seither werden auswärtige Demonstranten schon in Landquart abgefangen und Davos ist während dem WEF eine militärische Sicherheitszone. «Dabei wird das Recht auf Versammlungsfreiheit drastisch eingeschränkt», sagt Rolf Marugg.
Deshalb holt Marugg seit 2004 jährlich die Bewilligung für die Demo gegen das World Economic Forum ein. Auch wenn wegen der hermetischen Absperrungen höchstens noch 30 Unentwegte aus Davos und Umgebung gegen das WEF protestieren können. «Ich glaube, an unserer Demonstration nehmen mehr verkleidete Zivilpolizisten teil als echte WEF-Gegner», schmunzelt Marugg.
Aber Rolf Marugg ist sich die David-gegen-Goliath-Rolle gewohnt. Schon 2001 hatte er die Grüne Partei in Davos gegründet, «um etwas zu bewegen, die extrem bürgerlich dominierte politische Landschaft umzupflügen». Das mit dem Pflug war ein bisschen zu optimistisch, immerhin konnten die Grünen den verkrusteten Boden der Landschaft Davos mit der Harke auflockern.
Die Grüne Partei in Davos ist bis heute eine Ad-hoc-Bewegung, die sich aus nur fünf Mitgliedern zusammensetzt, die ihre Versammlungen per SMS einberufen können. «Es braucht in einem Bergtal viel Mut, Missstände anzusprechen, die andere nur denken», erklärt Marugg. Dafür werde er in Diskussionen schon mal hart angegangen. «Aber ich nehme Kritik nie persönlich, sondern abstrahiere sie auf die politische Ebene.»
Insgeheim stehen viele Davoser hinter dem sanften, aber beharrlichen Grünen. Als Marugg 2001 den damaligen Davoser Landammann herausforderte, das lokale FDP-Schwergewicht Erwin Roffler, erzielte er mit 751 gegen 1418 Stimmen einen Achtungserfolg. Und 2004 wurde Marugg als erster Grüner in den Davoser Grossen Landrat gewählt und stets wieder im Amt bestätigt.
«Die Leute wollen, dass es eine grüne Stimme gibt, die in Davos politisiert», glaubt Marugg, «auch wenn es nur eine einzige Stimme ist.» Selbst politische Gegner attestieren ihm, dass Marugg als einziger Exponent der Grünen in Davos eine konstruktive Oppositions- und Gesprächskultur geschaffen hat. Und neuerdings wirbt die Davoser FDP auf ihren Flyern für eine intakte Umwelt, in den vergangenen Jahren nicht gerade deren Kernkompetenz.
Beharrlich ist Rolf Marugg seit 2001 in der Davoser Politik tätig. Nach dem gleichen Prinzip, mit dem er im vergangenen Sommer eigenhändig sein neues Bienenhaus gebaut hat. 5000 Nägel hat er dazu eingeschlagen. Heute steht ein ästhetisch schönes und funktionales Bienenhaus im Schnee, in dem nächsten Sommer ein Dutzend Bienenvölker ein- und ausfliegen werden. Heute sitzen die Bienen aber satt in ihren Bienenkästen, man könnte sie sogar streicheln.
«Meine Bienen sind wie unsere vom Konsum gesättigte Gesellschaft. Mit vollem Bauch sind sie weniger angriffslustig», erklärt Rolf Marugg. Wenn man in Davos weiterhin vom Tourismus und dem WEF leben wolle, müsse man das träge Volk zwischendurch aufscheuchen und unbequeme Fragen stellen. «Es ist wichtig, dass das WEF nicht unkritisiert bleibt», glaubt Marugg, «nur darum sind ökologische Themen heute nicht mehr aus dem WEF-Programm wegzudenken. Dafür lohnt es sich, auch mal gestochen zu werden.»
Am 21. Januar wird Rolf Marugg aber erst einmal Anzug und Krawatte anziehen und – an der Eröffnung des World Economic Forum teilnehmen. Denn am 8. Januar 2015 wurde der grüne Oppositionspolitiker vom Grossen Landrat von Davos ohne Gegenstimme für ein Jahr zum Präsidenten gewählt. Und als höchster Davoser vertritt er die Gemeinde auch am World Economic Forum. Nach dem WEF wird Rolf Marugg aber wieder beharrlich seine Nägel einschlagen «im besitzstandswahrenden Haus der Davoser Politik».