Am 12. September 2014 erlitten die Leser des «Wall Street Journal» einen mittleren Schock. «Wettbewerb ist für Verlierer» lautete die Schlagzeile eines Leitartikels auf der Meinungsseite des Blattes, das sich rühmt, ein militanter Vertreter der freien Marktwirtschaft zu sein. Der Autor war zudem kein ewiggestriger Sozialist, sondern Peter Thiel, IT-Milliardär und Vordenker im Silicon Valley. Thiel hält nichts von Wettbewerb.
In seinem Bestseller «Zero to One» plädiert er offen für Monopole und macht sich über den Wettbewerb lustig. Die Vertreter eines möglichst freien Marktes unterliegen gemäss Thiel einer Illusion. Der perfekte Wettbewerb ist kein erstrebenswertes Ideal mehr, sondern die Hölle, die man meiden sollte, denn in einem perfekten Wettbewerb tendieren die Gewinne gegen Null. Die Unternehmen haben deshalb keine Reserven und können nicht mehr investieren.
Ganz anders sieht es aus, wenn es einem Unternehmen gelingt, eine Monopolstellung zu erringen. Dann verdient es genug, um Geld für Forschung und Entwicklung zur Verfügung zu haben und in neue Produkte zu investieren. Es kann auch anständige Löhne zahlen und seine Mitarbeiter ordentlich behandeln.
Auch die Gesellschaft profitiert, weil diese Unternehmen gute Steuerzahler sind. Deshalb versuchen Regierungen alles, solche Unternehmen anzulocken. Warum also singen Ökonomen immer noch das Loblied des Wettbewerbs? Weil sie den Fortschritt verschlafen haben. «Sie kopierten ihre Ideen von den Modellen der Physiker im 19. Jahrhundert», spottet Thiel.
Die Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft scheint Thiel Recht zu geben. Als erstes Unternehmen der Welt ist Apple nun mehr als eine Billion Dollar wert. Das ist eine Eins mit zwölf Nullen, eine Zahl, die für Nomalsterbliche kaum vorstellbar ist. Und Apple ist kein Einzelfall. An der Börse spricht man bereits vom «FAANG»-Phänomen. Gemeint sind dabei die Unternehmen Facebook, Apple, Amazon, Netflix und Google.
Diese IT-Superstars sind verantwortlich für den Boom an den Finanzmärkten, der für immer neue Rekorde sorgt; und sie sind auch der Grund, weshalb die amerikanische Wirtschaft wächst und wächst. Allein im letzten Quartal vergrösserte sich das Bruttoinlandprodukt um 4,1 Prozent.
Die FAANG-Unternehmen dominieren schliesslich unseren Lebensstil. Ohne Smartphone könnten wir unseren Alltag nicht mehr bewältigen, ohne Facebook und Google wären wir orientierungslos. Amazon hat derweil unser Einkaufsverhalten auf den Kopf gestellt und Netflix unser Freizeitverhalten.
Angesichts dieser Entwicklung kommt man zum Schluss: «Game, Satz und Match für Peter Thiel.» Doch das wäre voreilig. Nur wer die Schattenseite der Monopolisierung ausblendet, kann Thiel kritiklos zustimmen. Das zeigt ein kurzer Rückblick in die Geschichte.
Thomas Jefferson, einer der amerikanischen Gründerväter, Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und heute noch einer der bedeutendsten Vordenker, hat sich die Vereinigten Staaten ganz anders vorgestellt. Sein Ideal war eine Gesellschaft von freien Bauern und Unternehmen, die sich einem friedlichen und fairen Wettbewerb stellten. Monopole und staatliche Eingriffe waren ihm ein Gräuel.
Auch das Internet war ursprünglich als eine Art digitale Version einer Gesellschaft im Sinne von Jefferson gedacht. Tim Berners-Lee, der als Vater des Internets geadelt wurde, hatte die Vorstellung eines Informationsnetzes, auf dem sich Wissenschaftler gratis und ohne staatliche Aufsicht austauschen konnten. Heute noch spukt das Bild eines dezentralen, allen zugänglichen und unzensurierten Internets in den Köpfen der Cyber-Anarchisten herum.
Zu denen, die sich vom Internet mehr friedlichen Wettbewerb zwischen innovativen Kleinunternehmen erhofft haben, gehört auch Robert Reich. Der ehemalige Arbeitsminister in der Regierung von Bill Clinton lehrt an der Berkeley University of California und gehört heute zu den bedeutendsten Aktivisten der Progressiven. In seinem Buch «The Work of Nations» hat er einst die These vertreten, wonach Monopolkonzerne im digitalen Zeitalter dem Untergang geweiht seien.
Reich hat sich geirrt, und zwar gründlich. Anstatt zu einer digitalen Gesellschaft im Sinne von Jefferson zu entwickeln, hat sich die IT-Industrie in Windeseile monopolisiert. Innerhalb eines Vierteljahrhunderts wurden aus Garagenunternehmen einiger Nerds multinationale Konzerne. Den nächsten Steve Jobs wird es vielleicht gar nicht mehr geben. Er wird von einem FAANG-Unternehmen als Start-up gekauft und dann ein luxuriöses Leben fristen.
Thiels These der wohltätigen Monopolisten hat deshalb einen Pferdefuss. Warum soll ein Unternehmen, das den Markt beherrscht, seine Stellung mit bahnbrechenden Innovationen in Frage stellen? Kritiker wie beispielsweise Jaron Lanier oder Evgeny Morozov befürchten vielmehr, dass die Innovationen im IT-Bereich bald versiegen werden, weil sich die FAANG-Unternehmen den Markt aufgeteilt haben und ihn gegen mögliche neue Emporkömmlinge mit Zähnen und Klauen verteidigen werden.
Dass die neuen Tech-Monopolisten zu Wohltätern der Gesellschaft werden, ist derweil für Andrew Keen ein Witz, und zwar ein schlechter. Der ehemalige Internet-Enthusiast hat sich zum Internet-Kritiker gewandelt und warnt in seinem Buch «Das Internet ist nicht die Antwort» vor der Gefahr einer neuen feudalen Ordnung.
An der Spitze dieser neuen Feudalgesellschaft stehen Oligarchen wie Mark Zuckerberg, Jeff Bezos, Sergey Brin oder Larry Page. Sie verfügen über Vermögen, die bis vor kurzen noch undenkbar waren. Ein neuer Internetklerus, Wissenschaftler und Journalisten, verbreitet die frohe Botschaft einer vermeintlichen Sharing Economy in den Medien. Der breite Mittelstand hingegen befindet sich im Niedergang. Es entsteht eine neue Klasse von Leibeigenen, Menschen, die in prekären Verhältnissen leben und mit einem lausigen Mindestlohn über die Runden kommen müssen und banale Dienstleistungen für die wenigen Glücklichen verrichten.
Tatsächlich sind die Zeichen der Entwicklung hin zu einer neuen, von Monopolisten beherrschten Feudalgesellschaft unübersehbar geworden. «Apple und Google sorgen zusammen für 99 Prozent der Software in allen Smartphones», können wir in der «New York Times» lesen. «Facebook und Google sacken inzwischen 59 Cents jedes Werbedollars in den Vereinigten Staaten ein.»
Ebenso ist es Wunschdenken, dass die IT-Unternehmen ihre Monopolgewinne zur Förderung der Innovation verwenden. Der grösste Teil fliesst über den Umweg des Aktienrückkaufs in die Tasche der Aktionäre. Die Zeiten, in denen die Fortschritte der Produktivität mit den Mitarbeitern geteilt wurden, sind vorbei. Die Löhne des breiten Mittelstandes stagnieren seit Jahren und halten selbst im aktuellen Boom nicht Schritt mit der Inflation.
Die Monopolisierung ist kein Privileg der IT-Unternehmen. Banken, Airlines oder Telekom-Unternehmen – alle schliessen sich zu immer mächtigeren Konzernen zusammen. Das trifft selbst in unscheinbaren Bereichen zu. Als es 2011 zu schweren Überschwemmungen in Thailand kam, geriet die Autoindustrie in Nöte, weil die Produktionsstätten des weltweit bedeutendsten Herstellers von Scheibenwischern während Wochen überflutet waren und es zu einem überraschenden Mangel dieses scheinbar banalen Teils kam.
Immer leistungsfähigere Computer und immer intelligentere Software ermöglichen schliesslich eine total überwachte Gesellschaft. Chinas Herrscher experimentieren bereits mit «sozialen Kreditsystem», einem digitalen Punktesystem, in dem sämtliche Aktivitäten der Menschen erfasst und sozial abweichendes Verhalten sofort sanktioniert werden. Inzwischen ist sattsam bekannt, dass Facebook & Co. nicht nur alles über unser Konsumverhalten wissen. Der Skandal um die Einmischung des russischen Geheimdienstes in die US-Wahlen hat auch gezeigt, dass wir gezielt manipuliert werden können.
George Orwells Big Brother ist kein dystopischer Albtraum mehr. So gesehen ist es geradezu beruhigend, dass der Börsenwert von Facebook kürzlich an einem Tag um 120 Milliarden Dollar eingebrochen ist.