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Im Westen nichts Neues – kommt der Staat der Zukunft aus dem Osten?

Der hängende Garten in Singapur.
Der hängende Garten in Singapur.Bild: BARBARA WALTON/EPA/KEYSTONE
Hass auf Politiker

Im Westen nichts Neues – kommt der Staat der Zukunft aus dem Osten?

Unfähige Politiker, aufgeblähter Staat: Die westliche Demokratie kommt in Verruf. Autoritäre Staaten wie Singapur oder gar China gewinnen an Ansehen.
20.07.2014, 21:4821.07.2014, 15:41
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Nach dem Fall der Berliner Mauer war alles klar: Demokratie und freier Markt hatten gewonnen, Diktatur und Planwirtschaft verloren. Die grosse Glaubensfrage des 20. Jahrhunderts schien endgültig entschieden.

Nur ein knappes Vierteljahrhundert später sieht die Welt aus Sicht des Westens ganz anders aus: Die Demokratie ist zu einer Schlammschlacht verkommen, die Politiker zu einer elitären Kaste, die sich auf Kosten ihrer Wähler bereichert. Der Staat wird als gefrässiges Monster betrachtet, der Steuergelder verschleudert; die globalisierte Wirtschaft als ein Vehikel, das den Mittelstand verarmen lässt. 

Die Kaderschulen der KP werden mit den Managerschmieden im Westen verglichen

In Asien hingegen ist die Welt noch in Ordnung. Singapur beispielsweise gilt als Modellstaat. Sein Übervater Lee Kuan Yew hat den einst schmuddeligen Stadtstaat in eine saubere und reiche Multikulti-Nation verwandelt. Er hat dies mit harter Hand erreicht: Lee hält wenig von Demokratie und nichts vom Sozialstaat. Er setzt auf Leistung, Eigenverantwortung und auf einen schlanken Staat.

Lee Kuan Yew.
Lee Kuan Yew.Bild: AP

Singapurs Aufstieg wird auch in Bejing mit Wohlgefallen verfolgt. Die einst als Steinzeitkommunisten verspotteten Nachfolger von Mao Zedong haben ihren «Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften» in einen effizienten Staatskapitalismus umgemodelt, der Lees Vorstellungen sehr nahe kommt. Sie haben damit Erfolg. Die Entwicklung Chinas in den letzten Jahrzehnten gilt inzwischen als grösstes Wirtschaftswunder in der Geschichte der Menschheit, und die Kaderschulen der KP China werden bereits mit den Elite-Businessschulen des Westens verglichen. 

Als das Leben noch hässlich, brutal und kurz war

John Micklethwait und Adrian Wooldridge gehen in ihrem Buch «The Fourth Revolution» der Frage nach, warum im Westen der Staat inzwischen so verhasst geworden ist und was uns am Osten so fasziniert. Micklethwait ist Chefredaktor, Wooldridge Redaktor bei der renommierten Zeitschrift «The Economist». Beide haben mehrere Bücher zusammen geschrieben. 

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Bild: PD

Wie ist der moderne Staat im Westen entstanden? Als geistiger Vater gilt Thomas Hobbes. 1651 hat er sein Werk «Leviathan» veröffentlicht. Darin stellt er die berühmte These auf, wonach der Mensch dem Schicksal eines «hässlichen, brutalen und kurzen» Lebens nur dann entrinnen kann, wenn er sich unter den Schutz eines starken Herrschers begibt. Was auf den ersten Blick als Verherrlichung eines absoluten Monarchen erscheint, entpuppt sich beim zweiten als Sozialvertrag: Hobbes stellt klar, dass ein Herrscher keineswegs von Gott eingesetzt wird, wie es die Aristokratie gerne glaubt. Er muss sich als Beschützer seiner Untertanen seine Stellung verdienen. 

«Leviathan» von Thomas Hobbes. 
«Leviathan» von Thomas Hobbes. Bild: PD

Der Nachtwächterstaat

Hobbes hat seinen «Leviathan» während des englischen Bürgerkrieges geschrieben, in einer Zeit, in der Könige geköpft und normale Bürger unverhofft Opfer eines brutalen Glaubenskriegs werden konnten. Schutz vor Willkür war die primäre Aufgabe, die der Staat zu erfüllen hatte. Dank der Industriellen Revolution war England 200 Jahre später sehr viel wohlhabender und viel friedlicher geworden. Unter diesen Bedingungen hat John Stuart Mill seine Idee eines liberalen Staates entwickelt. 

John Stuart Mill.
John Stuart Mill.Bild: PD

«Mills zentrales Anliegen war es nicht, eine Ordnung aus dem Chaos zu kreieren», stellen Micklethwait und Wooldridge fest. «Ihm ging es um das höchste Mass an Selbstverwirklichung innerhalb einer bestehenden Ordnung.» Seine Lösung bestand im liberalen Nachtwächterstaat, einem Staat, der sich auf das Notwendigste beschränkte – vor allem Schutz vor äusseren Feinden und Polizeiaufgaben – und das Übrige seinen mündigen Bürgern überliess. 

Die Idee der Chancengleichheit entsteht

In der Theorie tönt das gut. Doch selbst Mills begann gegen Ende seines Lebens einzusehen, dass dies in der Praxis nicht funktionieren kann. Um der Chancengleichheit zum Durchbruch zu verhelfen, braucht es mehr als einen Nachtwächterstaat. 

Beatrice Potter, eine frühe Verehrerin von Mill, baute diesen Ansatz aus. Die Tochter eines reichen Unternehmers entwickelte sich so bald zu einer Vorkämpferin des Sozialstaates. Zum Entsetzen ihrer Eltern heiratete sie den Sozialaktivisten Sidney Webb und gründete mit ihm die Fabian Society, eine Gesellschaft, die sich dafür einsetzte, dass der Staat die wesentlichen Rahmenbedingungen setzt, dass echte Leistung anstelle von geerbten Privilegien tritt und Wissenschaft das populistische Vorurteil ersetzt. 

Beatrice Webb.
Beatrice Webb.Bild: PD

Der Sozialstaat ist ein Erfolg

Die Webbs und ihre Fabians hatten nicht nur prominente Mitglieder wie den Schriftsteller Bernard Shaw, sie hatten auch einen grossen Einfluss auf die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates. Sie verfassten weite Teile des Programmes der sozialistischen Labour-Partei, gründeten die London School of Economics – heute eine der bedeutendsten Universitäten der Welt – und die Zeitschrift «New Statesman». 

Dank den Webbs entstand allmählich die Vorstellung des modernen Wohlfahrtsstaates, der jedem Menschen ein Dach über dem Kopf garantiert, aber auch Gesundheit, Erziehung und soziale Sicherheit. Nach dem Zweiten Weltkrieg war dieses Modell äusserst erfolgreich. Die Menschen verdienten immer mehr, obwohl sie immer weniger arbeiten mussten. Alters- und Krankenvorsorgesysteme wurden geschaffen.

Sandmangel in der Wüste Sahara

In der sozialen Marktwirtschaft war der Staat nicht mehr länger ein Nachtwächter, er sass an den Schalthebeln der Wirtschaftsmacht. Auch in westlichen Ländern waren viele Basisindustrien verstaatlicht, andere waren stark reguliert. In den 1970er-Jahren geriet die soziale Marktwirtschaft in eine Krise. Streiks legten die Wirtschaft oft wochenlang lahm, die Inflation stieg in den zweistelligen Bereich und vernichtete die Sparguthaben. 

Milton Friedman.
Milton Friedman.Bild: AP NY

Der Staat wurde zum Sinnbild wirtschaftlicher Inkompetenz. «Wenn man dem Staat die Verwaltung über die Wüste Sahara übertragen würde, dann würde innerhalb von fünf Jahren Sandmangel herrschen», spottete der US-Ökonom Milton Friedman. Er lieferte die weltanschauliche Grundlage für die neoliberale Revolution von Margaret Thatcher und Ronald Reagan. 

Die Tage von Big Government sind gezählt

Weniger Steuern, Privatisierung der teilverstaatlichten Wirtschaft und eine Deregulierung des Gesetzdschungels waren die zentralen Forderungen dieser Revolution. Politisch war sie erfolgreich. In den 1990er-Jahren begannen selbst Linksliberale wie Bill Clinton oder Tony Blair davon zu sprechen, dass die Tage von «Big Government» gezählt seien.

In der gesellschaftlichen Realität änderte sich wenig. Weder Thatcher noch Reagan konnten den Sozialstaat entscheidend zurückstutzen, ganz einfach weil er sich nicht mehr zurückstutzen lässt. Ein reiner Nachtwächterstaat im Sinne von Mill ist undenkbar geworden. In der Schweiz beispielsweise würde nicht einmal der Thatcher-Fan Christoph Blocher daran denken, AHV oder Krankenkassen wieder abzuschaffen oder die SBB zu privatisieren. 

Warum Haarschneiden immer teurer wird 

Die Leistungen, die der Staat erbringt, haben jedoch mit einem Handicap zu kämpfen, der Baumol’schen Krankheit. William Baumol hat 1966 in einem berühmten Aufsatz begründet, warum die Kosten des Staates schneller wachsen als diejenigen der Wirtschaft. 

Haarewaschen lässt sich nicht automatisieren.
Haarewaschen lässt sich nicht automatisieren.Bild: KEYSTONE

Am einfachsten lässt sich das mit dem Coiffeurvergleich erklären. Anders als etwa bei der Herstellung von Autos gibt es beim Haarschneiden kein Wachstum der Produktivität. Deshalb steigen die Coiffeurpreise im Vergleich zu den anderen Preisen überproportional. Das hat Konsequenzen: Wer heute die Dienste eines Luxusfigaros in Anspruch nimmt, zahlt dafür bald gleich viel wie für einen Laptop, der vor kurzem noch das Zehnfache gekostet hat. 

Wie sich Bauern- und Pharmalobby durchsetzen

Der Staat beschäftigt zwar kaum Coiffeure, aber der grösste Teil seiner Arbeitnehmer ist im Dienstleistungssektor tätig. Im Pflege- und Schulbereich entfaltet das Baumol’sche Gesetz ebenfalls seine Wirkung. Deshalb wachsen auch die Kosten des Staates im Vergleich zur Privatwirtschaft überproportional.

Ein nach dem amerikanischen Ökonomen Mancur Olson benanntes Gesetz setzt dem Staat ebenfalls zu. Es besagt, dass eine gut organisierte Kleingruppe in einer Demokratie einen gewaltigen Vorteil gegenüber einer gleichgültigen Mehrheit hat. Organisieren ist mit Aufwand und Kosten verbunden, doch es lohnt sich. Die gut organisierten und politisch vernetzten Bauern und die Pharmaindustrie können ihre Interessen gegen die Mehrheit durchsetzen, weil niemand den Aufwand auf sich nehmen will, gegen diese Interessen anzukämpfen. Stattdessen werden Kosten auf den Staat überwälzt.

Die Demokratie wird überfordert – von uns

Trotz Baumol und Olson haben wir uns im Westen an die Vorteile eines Wohlfahrtsstaates gewöhnt und wollen sie nicht mehr missen. Wir sind jedoch nicht gewillt, die überproportional steigenden Kosten zu bezahlen, mit höheren Steuern beispielsweise. Mit anderen Worten: Wir nähern uns einem Zustand, in dem wir die Ausgaben eines Wohlfahrsstaates haben und sie mit den Einnahmen eines Nachtwächterstaates begleichen wollen. 

Das kann nicht gut gehen. Die westlichen Demokratien werden zunehmend von widersprüchlichen Ansprüchen überfordert. Das zeigt auch das Beispiel der Masseneinwanderungs-Initiative. Das Schweizer Volk will gleichzeitig die Zuwanderung aus der EU beschränken und an den bilateralen Verträgen festhalten. Beides ist nicht möglich, eine vernünftige Diskussion darüber auch nicht. Was bleibt, sind frustrierte Bürgerinnen und Bürger und Hass auf den Staat. 

Autoritärer Staatskapitalismus ist effizient

Die autoritär geführten Staaten Asiens kennen diese Probleme nicht. Während wir uns über Banalitäten – man denke an die Zürcher Hafenkran-Debatte – die Köpfe einschlagen oder in ausweglose Situationen verrennen, werden in China über Nacht modernste Flughäfen und ein Netz von Hochgeschwindigkeitszügen aus dem Boden gestampft.

Chinesische Hochgeschwindigkeitszüge.
Chinesische Hochgeschwindigkeitszüge.Bild: EPA

Im Vergleich scheint der asiatische Staatskapitalismus viel effizienter zu sein als unsere in die Jahre gekommene und verluderte Demokratie. Nur sollte man bedenken: Asien hat eine ganz andere Geschichte und andere Traditionen. Kein vernünftiger Mensch würde die Effizienz von Singapur gegen unsere demokratischen Errungenschaften eintauschen wollen. 

Die wahre Gefahr sind schwache Staaten

Ronald Reagan pflegte zu sagen, dass die zehn am meisten Angst einflössenden Wörter der Welt (übersetzt) lauten würden: «Hallo, ich bin von der Regierung und hier, um Ihnen zu helfen.» Als Witz ist dieser Spruch genial, doch politisch zielt er am eigentlichen Problem vorbei. Nicht starke, sondern schwache oder sogar gescheiterte Staaten sind gefährlich. In Somalia und im Sudan herrschen Zustände, wo das menschliche Leben «hässlich, brutal und kurz» ist. 

Ronald Reagan: «Ich bin von der Regierung».
Ronald Reagan: «Ich bin von der Regierung».Bild: Dennis Cook/AP/KEYSTONE

Letztendlich kann es daher nicht darum gehen, den modernen Staat niederzumachen. Wir müssen ihn so umgestalten, dass er gleichzeitig demokratisch bleibt und effizienter wird. Der Historiker Ian Morris bringt es in seinem jüngsten Buch «War» auf den Punkt. Der am meisten Angst einflössende Satz lautet wie folgt: «Hallo, es gibt keine Regierung mehr, und ich bin hier, um Sie zu töten.» 

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