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Gesellschaft & Politik

Wie die Identitätspolitik den Klassenkampf abgelöst hat

Pantominen auf einer Strasse in Portland (Bundesstaat Oregon).
Pantominen auf einer Strasse in Portland (Bundesstaat Oregon).bild: upsplash

Warum die Frage «Wer bin ich?» zur wichtigsten Frage der Gegenwart geworden ist

Identität ist relevanter geworden als Klassenzugehörigkeit. Die Identitätspolitik führt in eine illusionäre Multi-Kulti-Gesellschaft oder zu einem neuen Faschismus. Das zeigt Francis Fukuyama in seinem neuesten Buch «Identity» auf.
17.11.2018, 16:5718.11.2018, 02:44
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Wer sich in den vergangenen 50 Jahren mit Sozialwissenschaften beschäftigt hat, stiess früher oder später unweigerlich auf die Bedürfnispyramide des Psychologen Abraham Maslow. Es handelt sich dabei um eine wissenschaftlich verbrämte Version des berühmten Spruchs des Schriftstellers Bertolt Brecht: «Das Fressen kommt vor der Moral».

Bei Maslow befriedigt der Mensch zunächst seine elementaren Bedürfnisse wie Essen und Schlafen, dann folgen Sicherheit und soziale und individuelle Bedürfnisse. Zuoberst thront die Selbstverwirklichung. Schön und gut, aber was genau ist dieses Selbst, das da verwirklicht werden soll? Dieser Frage geht der Politologe Francis Fukuyama in seinem neuesten Buch «Identity» nach.

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Ein Vordenker unserer Zeit: Francis Fukuyama.Bild: EPA/ANSA

Das Problem der Identität beschäftigt Philosophen und Theologen seit jeher. Hier eine begrenzte Auswahl der Antworten: Martin Luther wollte sich seine Identität nicht von einer dekadenten Kirche vorschreiben lassen und suchte sie im direkten Dialog mit Gott. Jean-Jaques Rousseau war überzeugt, dass dem Menschen eine edle Identität angeboren sei, die durch eine korrupte Gesellschaft beschädigt werde. Immanuel Kant glaubte an die Vernunft und an den freien Willen des Menschen.

Am weitesten lehnte sich Friedrich Nietzsche aus dem Fenster. Die Menschen seien nicht nur imstande, moralische Gesetze zu akzeptieren, wie das Luther und Kant postulierten, sie seien in der Lage, diese Gesetze selbst zu kreieren. «In Nietzsches Gedankenwelt ist das Herstellen von eigenen Werten die höchste Form der Kreativität», schreibt Fukuyama. «Seine überragende autonome Gestalt war Zarathustra, der angesichts des Todes des christlichen Gottes fähig war, alle Werte neu zu definieren.»

Im Mittelalter war Identität kein Problem

Die philosophischen Höhenflüge haben die meisten Menschen über Jahrhunderte kaum beschäftigt. Wer im Mittelalter als Bauernknabe in einem Dorf aufwuchs, dem stellte sich dieses Problem nicht. Er lebte in einer Grossfamilie, heiratete ein Mädchen, das seine Eltern für ihn ausgewählt hatten, und hörte auf das, was ihm der Pfarrer predigte.

Das änderte sich mit der Industrialisierung. Bauernknaben strömten in grosser Zahl in die Städte und arbeiteten nun in Fabriken. Sie lebten nicht mehr bei ihren Familien, sondern in Baracken, zusammen mit anderen Bauernknaben, die aus ganz anderen Gegenden stammten. Das öde, aber sichere Landleben wird durch ein hektisches, aber unsicheres Stadtleben ersetzt, der Priester durch politische Agitatoren.

Die Industrialisierung hat die Frage der Identität aufgeworfen.
Die Industrialisierung hat die Frage der Identität aufgeworfen.bild: Upsplash

In dieser Situation stellt sich die Identitätsfrage unter ganz anderen Umständen. Wem kann ich trauen? Was will ich werden? «Die Fragen nach der Identität, die kein Problem im heimischen Dorf war, wird nun zentral», stellt Fukuyama fest.

Die Antwort darauf liefern Nationalismus und Religion. Es ist kein Zufall, dass Industrialisierung und Nationalismus im Westen Hand in Hand gingen. Die Bauern, die aus ihrer Dorfgemeinschaft in die Städte wanderten, fanden in einem übersteigerten Nationalismus, dem Chauvinismus, ihre Identität. Mit dem islamischen Fundamentalismus geschieht heute das Gleiche. Er verschafft entwurzelten Muslims eine Pseudo-Identität.

Warum ist die Antwort auf die Frage: «Wer bin ich?» so wichtig? Nur wer sie beantworten kann, kann auch Selbstbewusstsein und Stolz entwickeln. Genau dies gelingt im Zeitalter der Globalisierung immer weniger Menschen. Sie fühlen sich nicht nur wirtschaftlich betrogen, sondern auch politisch verraten, weil sie in den Medien nicht mehr stattfinden.

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Wiegelt die «vergessenen Frauen und Männer» auf: Donald Trump. Bild: EPA/EPA

Menschen ohne Selbstwertgefühl werden zu politischen Zeitbomben. Nicht von ungefähr spricht Donald Trump von den «vergessenen Frauen und Männern» und höhnt über die snobistischen Eliten in den Städten. Er trifft damit genau den Nerv der Zeit. Mit der Elite in Medien und Universitäten und den Globalisten in der Wirtschaft hat er die idealen Feindbilder.

Ironischerweise haben die Linken den neuen Rechten den Weg dazu aufgezeigt. Weil in der modernen Wirtschaft die klassischen Arbeiter nur noch in der Erinnerung existieren, haben sie den Klassenkampf durch die Identitätspolitik ersetzt.

Mann oder Frau? Trensgender-Personen pochen auf ihre Rechte.
Mann oder Frau? Trensgender-Personen pochen auf ihre Rechte.

Wie Rousseau berufen sie sich dabei auf den inneren Wert oder die Authentizität eines jeden Menschen und sein Recht auf Selbstverwirklichung. «Man hat den Menschen gesagt, sie sollen ihr inneres Selbst verwirklichen, sie sollen ‹authentisch› und ‹engagiert› sein», stellt Fukuyama fest. «Die Leere, die Priester und Pfarrer hinterlassen hatten, wurde durch Psychoanalytiker und Therapeuten aufgefüllt.»

Grundsätzlich ist daran nichts auszusetzen. Natürlich sind alle Menschen gleich viel wert, seien sie männlich oder weiblich, heterosexuell oder schwul, weiss oder farbig. Dummerweise wird so die Gesellschaft in immer kleinere Untergruppen aufgesplittert, die alle auf ihren Werten und Rechten beharren. Die Authentizität des Einzelnen steht über dem Wohl der Gemeinschaft.

Narzisstische Überhöhung, politische Korrektheit und Wehleidigkeit werden so zu Nebenerscheinungen der Identitätspolitik. Menschen vergleichen sich mit «Schneeflocken», weil sie wie diese einzigartig und verletzlich sind und geschützt werden wollen.

Das wissen rechte Demagogen auszunutzen. Sie spotten über diese «Schneeflocken» und bieten eine Alternative zur progressiven Identitätspolitik an, einen faschistoiden Nationalismus. «Indem er die politische Korrektheit frontal angreift, hat Trump eine entscheidende Rolle gespielt, den Fokus der Identitätspolitik von links nach rechts zu verschieben», stellt Fukuyama fest.

Multi-Kulti führt in die Sackgasse

Gemäss Fukuyama befinden wir uns heute zwischen Hammer und Amboss: Weil ihr eine übergeordnete nationale Leitkultur fehlt, führt die Identitätspolitik der Linken zu einer Multi-Kulti-Gesellschaft, die sich immer weiter aufsplittert und zu zerbrechen droht. Die Identitätspolitik der Rechten greift die Schwäche der Linken auf und bietet den «vergessenen Frauen und Männern» wieder Selbstbewusstsein in Form eines neuen Chauvinismus an. Wie können wir uns aus dieser misslichen Situation befreien?

Der Wunsch nach Respekt und die Antwort auf die Frage nach der Identität sind gemäss Fukuyama so stark, dass sie nicht ignoriert werden können. Eine rein rationale Multi-Kulti-Gesellschaft ist daher gemäss Fukuyama eine Illusion. «Demokratien werden nicht überleben, wenn die Bürger nicht bis zu einem gewissen Grad auf irrationale Weise über Stolz und Patriotismus mit Rechtsstaat und Gleichheit verbunden sind», stellt er fest.

Am Nationalstaat führt kein Weg vorbei

Daher ist es auch Wunschdenken, dass der Nationalstaat in absehbarer Zeit überwunden werden kann. Das heisst jedoch nicht, dass dies zwangsläufig zu einem Blut-und-Boden-Nationalismus führen muss. Eine Nation kann sich auch über ein gemeinsames Vermächtnis definieren, über gemeinsame Werte und Regeln des Zusammenlebens.

Fukuyama führt dazu das Beispiel der Idee einer Leitkultur an, betont aber, dass eine solche Kultur nicht auf Rasse oder Geburtsort basieren darf, sondern auf inklusiven gemeinsamen Werten. «Dabei müsse wir stets vor Augen haben, dass unsere Identität weder unabänderlich ist noch uns bei der Geburt gegeben wird», warnt Fukuyama. «Identität kann uns auseinanderdividieren, aber sie kann uns auch zusammenführen. Letztlich wird dies das Rezept gegen die populistische Politik der Gegenwart sein.»

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56 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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rodolofo
17.11.2018 17:49registriert Februar 2016
Ohne Vater aufwachsend hatte ich in der frühkindlichen Phase keine Probleme damit.
Dann folgte die Kindheit, in der mir von besorgten Mitmenschen eingeredet wurde, dass das sehr traurig sei.
Als Kind willst Du unbedingt dazugehören!
Also hatte ich artig und selbstkritisch Probleme mit dem fehlenden "männlichen Über-Ich", insbesondere während der Pubertät.
Irgendwann am Ende meiner Identitäten Leidensgeschichte diagnostizierte dann eine Psychiaterin bei mir eine Persönlichkeits-Störung.
Dann sagte ich mir: "Jetzt reicht's!"
Seither läuft alles wie von selbst, auch ohne "Identität"...
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amRhein
17.11.2018 19:20registriert März 2016
Das Problem sind nicht Regeln, die sich Gruppen oder Gesellschaften selbst geben, sondern dass sich jene, die mehr haben auf ihr Mehr nicht verzichten (wollen). Damit entsteht sozialer Unfrieden und vor allem wird die Natur nachhaltig verändert/zerstört und damit die Unterschiede weiter verstärkt. Kurz: die Unvernunft und Gier zerstört Gesellschaft und Umwelt.

Hatten wir so ähnlich schon mal mit Adel und Klerus. Der Kapitalimus war nicht wirklich *die* Lösung.
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Buff Rogene
17.11.2018 20:12registriert Oktober 2016
1/2 Das Problem ist nicht "eine fehlende Leitkultur", sondern, dass zu viele Mensche nicht selbstständig zu denken und leben gelernt haben - ausserhalb der Vorgaben dieser "Leitkultur". Diesen Menschen fehlt dann der "Hammer" - aber warum sollten Linke und "snowflakes" für diese Defizite gebasht werden? Reduziert man das Problem nicht auf die (einfache) Frage nach dem "Wer bin ich", sondern stellt die Frage nach dem "Was will ich (wissen, können etc)?", stellt man fest, dass genuines Selbstbewusstsein nicht von einer Leitkulturenidentität abhängt, (…)
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