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«Ungleichheit gefährdet das Wachstum», sagt die OECD. Das ist, wie wenn der Papst die unbefleckte Empfängnis in Frage stellen würde

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«Ungleichheit gefährdet das Wachstum», sagt die OECD. Das ist, wie wenn der Papst die unbefleckte Empfängnis in Frage stellen würde

Die wachsende Ungleichheit wird eine Gefahr für das weltweite Wirtschaftswachstum. Das sagt nicht irgendwer, sondern die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Neoliberale sind entsetzt.
25.05.2015, 18:2626.05.2015, 08:48
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«Das Pariser Sekretariat der OECD droht zunehmend Töne anzuschlagen, die geradezu klassenkämpferisch anmuten», jammert die «NZZ» – und das mit gutem Grund. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stellt in ihrem neuesten Bericht fest, dass die wachsende Ungleichheit nicht nur moralisch ein Problem ist, sondern zunehmend auch eine Gefahr für die Weltwirtschaft wird.

Die reine Lehre der Volkswirtschaft

Für die neoliberale Ökonomie ist das Tabubruch und Verrat in einem. Die OECD ist eine Art oberste Instanz. Sie bestimmt die reine Volkswirtschafts-Lehre, und wenn sie jetzt Ungleichheit als Wachstumsbremse deklariert, dann stellt sie einen zentralen Pfeiler der herrschenden Ideologie in Frage. Es ist etwa so, wie wenn der Vatikan die unbefleckte Empfängnis Marias anzweifeln würde.

Die Fakten sprechen jedoch eine deutliche Sprache. Im Bericht mit dem Titel «In it together: Why Less Inequality Benefits All» hält die OECD fest, dass die wachsende Ungleichheit das Wachstum in den OECD-Staaten zwischen 1990 und 2010 um 4,7 Prozentpunkte vermindert habe. Das deutsche Bruttoinlandprodukt (BIP) etwa würde heute 6 Prozent höher liegen, gäbe es mehr Gleichheit. 

Hat die Ungleichheit empirisch nachgewiesen: Thomas Piketty.
Hat die Ungleichheit empirisch nachgewiesen: Thomas Piketty.Bild: APA

Solche Töne hörte man bisher primär aus der linken Ecke. Vor Jahresfrist sorgte Thomas Piketty mit seinem Buch «Das Kapital im 21. Jahrhundert» weltweit für Schlagzeilen. Darin weist er die wachsende Ungleichheit in den modernen Industriegesellschaften empirisch nach. Piketty wurde jedoch von einer Gegenpropaganda-Lawine förmlich niedergewalzt.

«Geizige Bosse zerstören die Hoffnungen ihrer Angestellten.»
Economist

Dasselbe geschieht regelmässig mit Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger und ehemaliger Chefökonom der Weltbank. Auch er hat die «Mehr-Ungleichheit-gleich-weniger-Wachstum»-These in mehreren Büchern durchexerziert – und wird dafür ebenso regelmässig in die linke Exoten-Ecke gestellt. 

Joseph Stiglitz kämpft schon lange gegen die Ungleichheit.
Joseph Stiglitz kämpft schon lange gegen die Ungleichheit.Bild: EPA WEF

Mit der OECD lässt sich das nicht so leicht machen, zumal sie auch von anderer, prominenter Seite Unterstützung erhält. Der «Economist» – weiss Gott keine marxistische Hochburg – hat kürzlich die gleiche These mit einer Fülle von Zahlen belegt. Beispiel eins: Trotz einer fünfjährigen Wachstumsperiode liegen die Reallöhne in den USA immer noch 1,2 Prozent unter dem Stand von 2009. 

Lausige Löhne lähmen die Wirtschaft

Beispiel zwei: In Deutschland liegen die Löhne durchschnittlich immer noch 2,4 Prozent unter dem Niveau von 2008. Generell hat sich der Anteil der Löhne am BIP in allen Industrienationen vermindert. Der gierige Banker sei nicht mehr das Feindbild, stellt der «Economist» fest. Er wird abgelöst vom «geizigen Boss, der die Hoffnungen seiner Angestellten mit lausigen Löhnen zerstört».

Die lausigen Löhne lähmen das Wachstum. Larry Summers, ehemaliger US-Finanzminister und Harvard-Ökonom, begründet seine These der «säkulären Stagnation» unter anderem mit einer schwindenden Binnennachfrage. Das ist nicht weiter verwunderlich: Wenn die Menschen kein Geld in der Tasche haben, dann konsumieren sie weniger, und wenn der Konsum einbricht, dann haben die Unternehmer keinen Grund zu investieren. 

Demonstration gegen Hungerlöhne in Miami. 
Demonstration gegen Hungerlöhne in Miami. Bild: AP

Diese an sich banale Einsicht zeigt langsam Wirkung. In den USA ist der Mindestlohn ein Mega-Polit-Thema geworden. Grossverteiler wie Walmart und Fastfood-Ketten wie McDonald’s haben die Mindestlöhne angehoben. Sie wollen damit zwei Fliegen auf einen Schlag treffen: Einerseits soll so die Binnennachfrage angekurbelt, andererseits auch die Produktivität der Mitarbeiter erhöht werden. Schlecht bezahlte Mitarbeiter sind auch wenig motivierte und damit wenig produktive Mitarbeiter. Auch das ist eine banale Einsicht. 

Geizige Bosse werden an den Pranger gestellt

Politisch ist in Sachen Mindestlohn viel in Bewegung geraten. Präsident Barack Obama will den nationalen Mindestlohn auf zehn Dollar pro Stunde erhöhen. Einzelne Städte gehen deutlich weiter: Seattle, San Francisco und neuerdings auch Los Angeles haben einen Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde beschlossen. Und geizige Bosse sollen an den Pranger gestellt werden: Kalifornien will ab 2016 die Namen aller Unternehmer mit mehr als 100 Angestellten, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, veröffentlichen. 

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11 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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stadtzuercher
25.05.2015 20:53registriert Dezember 2014
Guter Beitrag. Die NZZ täubelet fäng wie die SVP: Alle die anderer Meinung sind seien linke Sozialisten...
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_kokolorix
25.05.2015 21:31registriert Januar 2015
es ist ja schon erschreckend wie wenig die führenden leute von politik und wirtschaft von volkswirtschaft verstehen. die einen beherrschen nur ihre taschenspielertricks um ihre boni schön hochzuhalten, die anderen glauben mit einfacher milchbuchrechnung eine komplexe volkswirtschaft zu lenken. es gibt ersthafte aussagen von studierten leuten die behaupten man könne die nachfrage mit dem angebot bestimmen! hallo, wenn die leute kein geld haben kannst du anbieten was du willst, es wird es keiner kaufen (können). die reichen können das viele geld das ihnen ohne besondere anstrengung ständig zufliesst gar nicht ausgeben bzw investieren, da die nachfrage längst eingebrochen ist. die meisten von ihnen bekämpfen aber jede noch so moderate umverteilung vehement und mit allem einsatz ihres vermögens und sehen nicht das irgendwann die ungleichheit nur noch mit gewalt zu beseitigen ist. wollen die das wirklich?
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Hackphresse
25.05.2015 18:35registriert Juli 2014
Der Kapitalismus überwindet sich von selbst wenns keine Einsicht gibt. Wo kein Lohn ist, da ist kein Markt. Arbeiter sind nach wie vor Konsumenten und kein 'Human Resource'. Da brauchen einige Wirtschafts(ent-)führer eine Auffrischkurs in VWL, sonst macht die Firma bald Verlust.
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