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Im 18. Jahrhundert lebten in Nordamerika indianische Stämme und Siedler nebeneinander. Dabei kam es öfters vor, dass Weisse von Indianern entführt wurden. Sebastain Junger ist in seinem Buch «Tribe» dem Schicksal dieser Weissen nachgegangen und machte dabei die erstaunliche Entdeckung: Die allermeisten wollten nicht mehr zurück.
Als Grund für dieses Phänomen bezeichnet Junger die Gemeinschaft, die bei den Indianerstämmen viel ausgeprägter war als bei den Siedlern. «Sie (die Indianer, Anm. der Red.) pflegten einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn, der auch die Kindererziehung umfasste. Sie pflegten fast alles zusammen mit anderen zu erledigen und waren praktisch nie allein.»
Gestützt auf Junger hat der «New York Times»-Kolumnist David Brooks kürzlich die Gemeinschaft der Indianer mit der modernen amerikanischen Gesellschaft verglichen. Dabei kommt er zu einem niederschmetternden Befund:
Gier und individuelle Leistung bilden bekanntlich die Grundlage des Kapitalismus. Diese Kombination hat den Menschen in den reichen Ländern einen unglaublichen Wohlstand ermöglicht, aber gleichzeitig den Gemeinschaftssinn verkümmern lassen. Nach drei Jahrzehnten Neoliberalismus hat diese Entwicklung einen traurigen neuen Höhepunkt erreicht: Unsere Leistung am Arbeitsplatz wird immer präziser erfasst und unser Lohn darauf ausgerichtet. Umgekehrt wollen wir nur noch für exakt definierte Leistungen bezahlen.
Dank Big Data und künstlicher Intelligenz kann dieses Prinzip immer effizienter durchgesetzt werden. Bei den Airlines beispielsweise gab es lange zwei Klassen, dann kam die Businessklasse hinzu. Heute wird die Holzklasse zunehmend zerstückelt: Wer am Fenster sitzen will, muss mehr bezahlen als wer den unbeliebten Mittelsitz belegen muss. Zusatzkosten gibt es für mehr Gepäck, besseres Essen. An einzelnen Flughäfen kann man sich mit einer Gebühr die Schlange vor dem Check-In ersparen, usw.
Die Airlines sind in bester Gesellschaft. Vor allem stark monopolisierte Dienstleistungsunternehmen setzen zunehmend auf Individualisierung. Wer eine Box in sein Auto montieren lässt, die seinen Fahrstil aufzeichnet, wird mit tieferen Versicherungsprämien belohnt. Wer etwa in der Hotelkette Ibis ein anständiges Wi-Fi benützen will, muss hingegen eine Zusatzgebühr entrichten. Migros und Coop drängen uns immer stärker an den Self-Checkout, Swisscom und Sunrise lassen uns in der Warteschlange der Helpline verzweifeln.
Die Individualisierung ist verbunden mit einer Digitalisierung. Es scheint, dass sich der Kapitalismus einen Mittelstand nicht mehr leisten kann. Online gilt: Selbst ist der Mann, respektive die Frau. «Wer reich ist, kann sich erlauben, was lange als normal für alle galt – nämlich das Privileg, es mit menschlichen Wesen zu tun zu haben», stellt Edward Luce in der «Financial Times» fest. «Nur sehr reiche Menschen erhalten heute noch ein personalisiertes Banking, wo der Vermögensverwalter ihren Namen und ihre Bedürfnisse kennt. Das trifft zunehmend auch für das Gesundheitswesen zu. Viele oligopolistische Dienstleister führen inzwischen heimlich Listen von VIP-Kunden. Sie müssen sich nicht mehr durch die Roboter gesteuerten Beantwortungssysteme kämpfen, sondern werden direkt mit einem menschlichen Kundenberater verbunden.»
Die fortschreitende Atomisierung der Wirtschaft erzeugt Frust und Wut. Wer von computerisierten Beantwortungssystemen abgewimmelt wird, wähnt sich als Mensch zweiter Klasse. Wer ein Flugticket nicht umtauschen kann, weil er bei der Online-Bestellung einen Fehler gemacht hat, fühlt sich verar... Beim Mittelstand breitet sich so das Gefühl aus, nur noch dann anständig behandelt zu werden, wenn man dafür auch bezahlt. Wenn menschliche Wärme und Gemeinschaftsgefühl käuflich sind, dann hat die Gesellschaft ein Problem.