Vor rund zwei Jahren hat der französische Ökonom Thomas Piketty mit seinem Bestseller «Das Kapital im 21. Jahrhundert» die Welt aufgerüttelt, indem er empirisch nachwies, dass die Ungleichheit weltweit beinahe wieder das Ausmass der feudalen Gesellschaften vor dem Ersten Weltkrieg erreicht hat.
Vor rund einem Jahr hat der amerikanische Ökonom mit serbischen Wurzeln, Branko Milanovic, seine legendäre Elefanten-Grafik veröffentlicht, die plakativ vor Augen führt, wie dramatisch die Einkommen des amerikanischen Mittelstandes eingebrochen sind.
Wir haben es besser. «Die Schweiz ist reich und gleich», lautet das Fazit einer Studie von Avenir Suisse über die Einkommensverteilung in unserem Land. Öffnen der Einkommensschere? Wachsende Armut? Prekäre Arbeitsverhältnisse? Nix da! In der Schweiz werde eine gleichmässige Verteilung bereits vor der Umverteilung erreicht, lehrt uns die Studie.
Ferner wird festgestellt, dass im Vergleich zu Europa ein überdurchschnittlich grosser Anteil der Einkommen an die Ärmsten fliesse. Jede Generation stehe besser da als die zuvor, und seit 2007 seien die Einkommen der Ärmsten am stärksten gestiegen. Selbst der Anteil der Armen an der Bevölkerung – derzeit liegt er bei rund sieben Prozent – sei leicht rückläufig.
«Die Verteilung der Einkommen ist bemerkenswert stabil», sagt der Autor der Studie, Natanael Rother. «Ausser Norwegen und Luxemburg schafft das kein anderes Land.» In Deutschland beispielsweise hätten die Ärmsten weniger, und zwar «absolut und relativ». Zudem würden die Einkommen in allen Altersgruppen steigen, «auch bei den Rentnern», wie Rother betont.
Wie kommt es aber, dass sich auch der Durchschnittsschweizer immer ärmer fühlt? Avenir-Suisse-Direktor Peter Grünenfelder macht dafür die emotionale Diskussion um die überrissenen Löhne ein paar weniger Manager verantwortlich. Dazu komme die geschickte Öffentlichkeitsarbeit der Linken und den Neid. Diese «überhitzte Debatte» lenke von den eigentlichen Herausforderungen dieser Zeit ab, glaubt Grünenfelder und fordert stattdessen eine «faktenbasierte Diskussion».
Ein entscheidendes Faktum allerdings fehlt in der Avenir-Suisse-Studie: Die Verteilung der Vermögen. Seit der Finanzkrise wurde das grosse Geld entweder im Immobilienmarkt oder an den Finanzmärkten verdient. Daran kann nur eine verschwindende Minderheit der Schweizer Bevölkerung teilnehmen.
Gemäss Angaben des Armuts-Handbuchs der Caritas verfügt ein Viertel der Schweizerinnen und Schweizer über keinerlei Vermögen, 31 Prozent haben maximal 50'000 Franken, 33 Prozent zwischen 50'000 und 500'000 Franken, 6 Prozent zwischen 500'000 und 1 Million Franken und 5 Prozent über eine Million Franken. Die Zahlen stammen aus dem Jahr 2009.
Warum schweigt sich Avenir Suisse über die Vermögensverteilung aus? Es sei nicht möglich «zu entscheiden, wie die Vermögen in der 2. Säule und der AHV zu gewichten sind», erklärt Rother. Tatsächlich besteht bei den Experten ein nach wie vor nicht entschiedener Disput, ob die Pensionskassengelder dem Vermögen oder dem Einkommen zugeschlagen werden müssen. Immerhin hat Grünenfelder das Problem erkannt. «Wir werden in einer späteren Studie auf die Vermögensverteilung zurückkommen», verspricht er.