Deflation ist, wenn unser Geld immer mehr wert wird. «Toll», sagt Anna, «dann kann ich mir mit meinem Lohn immer mehr leisten.» Inflation ist, wenn unser Geld immer weniger wert ist. «Toll», sagt Robert, «dann werden meine Hypothekarschulden immer kleiner.» Wer hat Recht? Darüber streiten sich nicht nur Anna und Robert, sondern auch die Zunft der Ökonomen – und zwar heftig.
Es handelt sich dabei um weit mehr als eine akademische Debatte. Der Ausgang dieser Debatte wird die Wirtschaftspolitik der kommenden Jahre bestimmen und damit massgeblich unsere Zukunft beeinflussen.
In normalen Zeiten herrscht stets eine leichte Teuerung. Die Rohstoff- und Nahrungsmittelpreise schwanken ihrer Natur gemäss, absolut stabile Preise gibt es nur in der Theorie. Das ist nicht weiter schlimm. Eine Inflation unter zwei Prozent wird als harmlos betrachtet und von den Zentralbanken toleriert.
In der europäischen Einheitszone ist die Inflation jedoch aktuell auf durchschnittlich 0,5 Prozent gesunken. In einzelnen Ländern wie etwa Spanien herrscht bereits eine leichte Deflation, will heissen: die Preise sinken. Auch in der Schweiz kippt die Teuerung immer mal wieder ins Minus.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat den Auftrag, für stabile Preise zu sorgen. Das gilt nicht nur für die Inflation, sondern auch für die Deflation. Deshalb werden die Stimmen lauter, die fordern, dass die EZB Massnahmen ergreifen soll, um der Aufwertung des Geldes entgegen zu steuern. Andere wiederum warnen heftig davor. Weshalb?
Die Ökonomie gibt sich heute zwar gerne einen naturwissenschaftlichen Anschein und kleidet ihre Theorien in hoch komplexe, mathematische Formeln. Entstanden ist sie jedoch aus der Moraltheologie und sie wird nach wie vor von Glaubenskriegen geschüttelt. Nirgends zeigt sich dies klarer als im Streit um Deflation oder Inflation. Hier bekämpfen sich die Vertreter unterschiedlicher Richtungen wie einst Katholiken und Protestanten.
Die Deflationsanhänger argumentieren wie folgt: Deflation tritt dann auf, wenn die Wirtschaft zu stark auf Pump gelebt und zu viele Schulden gemacht hat. Sinkende Preise wirken wie ein reinigendes Gewitter. Gesunde Unternehmen werden dieses Unwetter überleben und die Wirtschaft als ganzes wird gestärkt.
Der bekannteste Deflations-Fan der jüngeren Geschichte war Andrew Mellon, US-Finanzminister zur Zeit des Börsencrashs 1929. Er hat sich vehement gegen eine Rettung von überschuldeten Banken und angeschlagenen Firmen gewehrt und stattdessen empfohlen: «Die Arbeit liquidieren, Aktien liquidieren, Bauern liquidieren und Immobilien liquidieren.»
Heute wird sich selbst ein harter Deflations-Fan nicht derart weit aus dem Fenster lehnen, doch die Stossrichtung von Mellows Argumentation ist die gleiche geblieben. So schreibt Peter Fischer, Wirtschaftschef der NZZ: «Hinter dem vor allem politisch geprägten Ruf nach höheren Inflationsraten steckt der Wunsch, von der Geldpolitik aus der eigenen Schuldenwirtschaft herausgehauen zu werden.»
Und Jürgen Stark, der einst das EZB-Direktorium aus Protest verlassen hat, stellt in der «Financial Times» fest: «Die Warnungen vor einer bevorstehenden Deflation und der Ruf nach Aktionen der EZB sind übertrieben, fehlgeleitet und unverantwortlich.»
Die Inflationsbefürworter ihrerseits rechtfertigen leicht steigende Preise wie folgt: Eine moderate Inflation wirkt gerade in Krisenzeiten als Schmiermittel für die Wirtschaft. Es regt den Konsum an, weil sich das Horten von Geld nicht lohnt und es belebt die Investitionen, weil die Schuldenlast erträglich wird.
Das bekannteste Inflationszitat dieser Fraktion stammt vom ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt, der einst gesagt hat: «Fünf Prozent Inflation sind mir lieber als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.»
Auch das würde in dieser Form heute kein seriöser Ökonom mehr wiederholen. Aber die Empfehlung, die Wirtschaft über eine leicht erhöhte Teuerung wieder in Schwung zu bringen, besteht nach wie vor. Der Nobelpreisträger Paul Krugman beispielsweise attackiert in seiner «New York Times»-Kolumne die Deflationsfans und beschuldigt sie, aus Angst vor einer eingebildeten Inflationsgefahr eine viel zu hohe Arbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen. Martin Wolf, Chefökonom der «Financial Times» stellte kürzlich kategorisch fest: «Nur Ignoranten leben in Angst vor einer Hyperinflation». Wer hat Recht?
Glaubensfragen lassen sich bekanntlich nie endgültig entscheiden, aber in der aktuellen Situation haben die Inflationsfreunde die besseren Argumente. Dies aus zwei Gründen: Die europäische Wirtschaft hat sich noch lange nicht von der «Grossen Rezession» erholt. Vor allem in den Peripherieländern ist die Arbeitslosenzahl nach wie vor erschreckend hoch. Um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, müssen Konsumnachfragen und Investitionen belebt werden. Genau dies verhindert eine Deflation. Sie verleitet die Konsumenten dazu, ihr Geld zu horten und schreckt Unternehmer vor Investitionen ab.
Die hohen Staatsschulden sind der zweite wichtige Grund, der für eine leichte Inflation spricht. Länder wie Griechenland, Irland, Portugal, aber auch Spanien, Italien und eingeschränkt Frankreich, sind heute in einem Masse verschuldet, das eine normale Bedienung dieser Schulden illusorisch gemacht hat. So wissen Fachleute längst, dass Griechenland seine Staatsschuld von aktuell 172 Prozent des Bruttoinlandprodukts niemals im vorgesehenen Rahmen zurückzahlen wird.
Eine höhere Inflation in Europa würde die Schuldenlast der Defizitländer mildern und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, die europäische Wirtschaft wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die Alternative dazu, ein teilweiser Schuldenverzicht, wäre zwar sinnvoller, aber politisch chancenlos.