Am Schluss seines epischen Werkes über den Zweiten Weltkrieg schreibt der Historiker Antony Beevor: «Manche klagen darüber, dass der Zweite Weltkrieg fast 70 Jahre nach seinem Ende immer noch einen beherrschenden Einfluss ausübt, [...]. Das kann kaum überraschen, und sei es nur deswegen, weil das Böse eine nie enden wollende Faszination auszuüben scheint. [...] Allerdings besteht die reale Gefahr, dass der Zweite Weltkrieg als wohlfeiler Bezugspunkt für die Moderne und für alle Konflikte der Gegenwart benutzt wird. [...] Derartige Vergleiche führen sehr in die Irre und können falsche strategische Antworten hervorbringen. Führende Politiker von Demokratien riskieren so – wie Diktatoren –, zu Gefangenen ihrer eigenen Rhetorik zu werden.»
Was derzeit zwischen Deutschland und Griechenland abläuft, zeigt, dass Beevor den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Hat Yanis Varoufakis den Deutschen nun den Stinkefinger gezeigt oder nicht? Oder geht sein deutscher Amtskollege Wolfgang Schäuble zu weit, wenn er vor Wut schnaubend erklärt, die Griechen hätten «nun alles Vertrauen zerstört»?
Solche Fragen dominieren nach Varoufakis' Auftritt bei Günther Jauch die Diskussionen in den Talkshows und die Kommentare in den Zeitungen. Und als ob dieses wüste Hauen und Stechen nicht schon absurd genug wäre, kommt jetzt auch der Zweite Weltkrieg wieder ins Spiel. Griechenland verlangt eine Rückzahlung einer Zwangsanleihe aus dieser Zeit und trifft dort die Deutschen, wo es wirklich weh tut: Bei ihrer Nazi-Vergangenheit.
Dabei ist die Griechen-Eurokrise ein banales ökonomisches Problem. Die Griechen haben zu viele Schulden gemacht und dabei ein bisschen getrickst. Deutsche Banken haben ihnen für ihre Schuldenorgie zu viele Kredite gewährt und waren dabei – milde ausgedrückt – ein bisschen leichtsinnig. Jetzt steht man vor einem Schuldenberg von deutlich über 300 Milliarden Euro, und jeder vernünftig denkende Mensch hat längst erkannt, dass dieses Geld zu einem grossen Teil futsch ist.
Was nötig wäre, ist eine Umschuldung, wie dies bei Pleiten stets der Fall ist, auch bei Staatspleiten. Auf diese Weise hat man die südamerikanische Schuldenkrise der 80er Jahre mit den Brady Bonds in den Griff bekommen, und auch die «asiatische Grippe» Ende der 90er Jahre wurde schliesslich finanztechnisch bewältigt.
So gesehen müssten die smarten Finanzingenieure auch einen Weg aus der Griechenkrise finden, zumal es – verhältnismässig gesehen – um relativ wenig geht. In Griechenland werden gerade mal rund zwei Prozent des gesamten Bruttoinlandprodukts der Eurozone erwirtschaftet. Zum Vergleich: Die Schweiz würde auch nicht zugrunde gehen, wenn beispielsweise der Kanton Jura in Schwierigkeiten geraten würde.
Nicht die Finanzingenieure beherrschen die Szene, sondern die Moralapostel. Griechenland wird zu einem Spektakel über Schuld und Sühne. Es ist ein Schmierentheater, in dem sich zweitrangige Politiker wie der bayrische Finanzminister Markus Söder in Pose werfen und von Schulden schwafeln, die beglichen und Regeln, die eingehalten werden müssten.
Auf der anderen Seite entblödet sich der rechtspopulistische Verteidigungsminister Panos Kammenos damit, dass er droht, die Grenzen zu öffnen und potenziellen Dschihadisten freie Bahn nach Berlin zu ermöglichen. Begleitet wird das Ganze von dümmlichen Nazi-Vergleichen und einer Hetzkampagne gegen «gierige Griechen» der «Bild»-Zeitung, die einen journalistischen Allzeit-Tiefpunkt darstellt. Das in der heutigen Zeit zu schaffen, ist nicht einfach.
Würden sich bloss Griechen und Deutsche gegenseitig mit Schmutz bewerfen, könnte sich der Rest von Europa zurücklehnen und dieses Schauspiel entweder belustigt oder angewidert betrachten. Es steht jedoch viel mehr auf dem Spiel. Die ökonomische Krise ist zu einem politischen Überlebenskampf von Europa geworden.
«Scheitert der Euro, scheitert Europa». Dieses legendäre Merkel-Zitat ist aktueller denn je. Ein «Grexit» hätte unabsehbare Folgen. Zwischen Madrid und Helsinki entstehen fast täglich neue, unberechenbare Bewegungen und Parteien. Während sich der Westen mit den Geistern des Zweiten Weltkrieges herumplagt, bereitet im Osten ein mit Atomwaffen ausgerüsteter Mafiaboss den Dritten vor. Es braucht allmählich sehr viel Optimismus, um daran zu glauben, dass Europa heil aus dieser Nummer kommen wird.