Wer sich in den vergangenen 50 Jahren mit Sozialwissenschaften beschäftigt hat, stiess früher oder später unweigerlich auf die Bedürfnispyramide des Psychologen Abraham Maslow. Es handelt sich dabei um eine wissenschaftlich verbrämte Version des berühmten Spruchs des Schriftstellers Bertolt Brecht: «Das Fressen kommt vor der Moral».
Bei Maslow befriedigt der Mensch zunächst seine elementaren Bedürfnisse wie Essen und Schlafen, dann folgen Sicherheit und soziale und individuelle Bedürfnisse. Zuoberst thront die Selbstverwirklichung. Schön und gut, aber was genau ist dieses Selbst, das da verwirklicht werden soll? Dieser Frage geht der Politologe Francis Fukuyama in seinem neuesten Buch «Identity» nach.
Das Problem der Identität beschäftigt Philosophen und Theologen seit jeher. Hier eine begrenzte Auswahl der Antworten: Martin Luther wollte sich seine Identität nicht von einer dekadenten Kirche vorschreiben lassen und suchte sie im direkten Dialog mit Gott. Jean-Jaques Rousseau war überzeugt, dass dem Menschen eine edle Identität angeboren sei, die durch eine korrupte Gesellschaft beschädigt werde. Immanuel Kant glaubte an die Vernunft und an den freien Willen des Menschen.
Am weitesten lehnte sich Friedrich Nietzsche aus dem Fenster. Die Menschen seien nicht nur imstande, moralische Gesetze zu akzeptieren, wie das Luther und Kant postulierten, sie seien in der Lage, diese Gesetze selbst zu kreieren. «In Nietzsches Gedankenwelt ist das Herstellen von eigenen Werten die höchste Form der Kreativität», schreibt Fukuyama. «Seine überragende autonome Gestalt war Zarathustra, der angesichts des Todes des christlichen Gottes fähig war, alle Werte neu zu definieren.»
Die philosophischen Höhenflüge haben die meisten Menschen über Jahrhunderte kaum beschäftigt. Wer im Mittelalter als Bauernknabe in einem Dorf aufwuchs, dem stellte sich dieses Problem nicht. Er lebte in einer Grossfamilie, heiratete ein Mädchen, das seine Eltern für ihn ausgewählt hatten, und hörte auf das, was ihm der Pfarrer predigte.
Das änderte sich mit der Industrialisierung. Bauernknaben strömten in grosser Zahl in die Städte und arbeiteten nun in Fabriken. Sie lebten nicht mehr bei ihren Familien, sondern in Baracken, zusammen mit anderen Bauernknaben, die aus ganz anderen Gegenden stammten. Das öde, aber sichere Landleben wird durch ein hektisches, aber unsicheres Stadtleben ersetzt, der Priester durch politische Agitatoren.
In dieser Situation stellt sich die Identitätsfrage unter ganz anderen Umständen. Wem kann ich trauen? Was will ich werden? «Die Fragen nach der Identität, die kein Problem im heimischen Dorf war, wird nun zentral», stellt Fukuyama fest.
Die Antwort darauf liefern Nationalismus und Religion. Es ist kein Zufall, dass Industrialisierung und Nationalismus im Westen Hand in Hand gingen. Die Bauern, die aus ihrer Dorfgemeinschaft in die Städte wanderten, fanden in einem übersteigerten Nationalismus, dem Chauvinismus, ihre Identität. Mit dem islamischen Fundamentalismus geschieht heute das Gleiche. Er verschafft entwurzelten Muslims eine Pseudo-Identität.
Warum ist die Antwort auf die Frage: «Wer bin ich?» so wichtig? Nur wer sie beantworten kann, kann auch Selbstbewusstsein und Stolz entwickeln. Genau dies gelingt im Zeitalter der Globalisierung immer weniger Menschen. Sie fühlen sich nicht nur wirtschaftlich betrogen, sondern auch politisch verraten, weil sie in den Medien nicht mehr stattfinden.
Menschen ohne Selbstwertgefühl werden zu politischen Zeitbomben. Nicht von ungefähr spricht Donald Trump von den «vergessenen Frauen und Männern» und höhnt über die snobistischen Eliten in den Städten. Er trifft damit genau den Nerv der Zeit. Mit der Elite in Medien und Universitäten und den Globalisten in der Wirtschaft hat er die idealen Feindbilder.
Ironischerweise haben die Linken den neuen Rechten den Weg dazu aufgezeigt. Weil in der modernen Wirtschaft die klassischen Arbeiter nur noch in der Erinnerung existieren, haben sie den Klassenkampf durch die Identitätspolitik ersetzt.
Wie Rousseau berufen sie sich dabei auf den inneren Wert oder die Authentizität eines jeden Menschen und sein Recht auf Selbstverwirklichung. «Man hat den Menschen gesagt, sie sollen ihr inneres Selbst verwirklichen, sie sollen ‹authentisch› und ‹engagiert› sein», stellt Fukuyama fest. «Die Leere, die Priester und Pfarrer hinterlassen hatten, wurde durch Psychoanalytiker und Therapeuten aufgefüllt.»
Grundsätzlich ist daran nichts auszusetzen. Natürlich sind alle Menschen gleich viel wert, seien sie männlich oder weiblich, heterosexuell oder schwul, weiss oder farbig. Dummerweise wird so die Gesellschaft in immer kleinere Untergruppen aufgesplittert, die alle auf ihren Werten und Rechten beharren. Die Authentizität des Einzelnen steht über dem Wohl der Gemeinschaft.
Narzisstische Überhöhung, politische Korrektheit und Wehleidigkeit werden so zu Nebenerscheinungen der Identitätspolitik. Menschen vergleichen sich mit «Schneeflocken», weil sie wie diese einzigartig und verletzlich sind und geschützt werden wollen.
Das wissen rechte Demagogen auszunutzen. Sie spotten über diese «Schneeflocken» und bieten eine Alternative zur progressiven Identitätspolitik an, einen faschistoiden Nationalismus. «Indem er die politische Korrektheit frontal angreift, hat Trump eine entscheidende Rolle gespielt, den Fokus der Identitätspolitik von links nach rechts zu verschieben», stellt Fukuyama fest.
Gemäss Fukuyama befinden wir uns heute zwischen Hammer und Amboss: Weil ihr eine übergeordnete nationale Leitkultur fehlt, führt die Identitätspolitik der Linken zu einer Multi-Kulti-Gesellschaft, die sich immer weiter aufsplittert und zu zerbrechen droht. Die Identitätspolitik der Rechten greift die Schwäche der Linken auf und bietet den «vergessenen Frauen und Männern» wieder Selbstbewusstsein in Form eines neuen Chauvinismus an. Wie können wir uns aus dieser misslichen Situation befreien?
Der Wunsch nach Respekt und die Antwort auf die Frage nach der Identität sind gemäss Fukuyama so stark, dass sie nicht ignoriert werden können. Eine rein rationale Multi-Kulti-Gesellschaft ist daher gemäss Fukuyama eine Illusion. «Demokratien werden nicht überleben, wenn die Bürger nicht bis zu einem gewissen Grad auf irrationale Weise über Stolz und Patriotismus mit Rechtsstaat und Gleichheit verbunden sind», stellt er fest.
Daher ist es auch Wunschdenken, dass der Nationalstaat in absehbarer Zeit überwunden werden kann. Das heisst jedoch nicht, dass dies zwangsläufig zu einem Blut-und-Boden-Nationalismus führen muss. Eine Nation kann sich auch über ein gemeinsames Vermächtnis definieren, über gemeinsame Werte und Regeln des Zusammenlebens.
Fukuyama führt dazu das Beispiel der Idee einer Leitkultur an, betont aber, dass eine solche Kultur nicht auf Rasse oder Geburtsort basieren darf, sondern auf inklusiven gemeinsamen Werten. «Dabei müsse wir stets vor Augen haben, dass unsere Identität weder unabänderlich ist noch uns bei der Geburt gegeben wird», warnt Fukuyama. «Identität kann uns auseinanderdividieren, aber sie kann uns auch zusammenführen. Letztlich wird dies das Rezept gegen die populistische Politik der Gegenwart sein.»