Im Jahr 2009 hatte ein konservativer griechischer Minister Leuten aus seinem Wahlkreis Jobs bei der Athener Metro verschafft, Jobs wohlgemerkt, die völlig überflüssig waren. Als dieser Skandal aufflog, wurden die Leute entlassen. Jetzt können sie wieder an ihren «Arbeitsplatz» zurückkehren, mit ausdrücklicher Genehmigung des Parlaments. Es hat einem entsprechenden Gesetz zugestimmt. «Das wirkt wie ein Witz, ist aber eine Tragödie, weil es zeigt, wie wenig sich in Griechenland geändert hat», kommentiert der «Tages-Anzeiger».
Griechenland war einst die Wiege der Demokratie und ist auch heute noch ein mehr oder weniger demokratischer Staat. Das Problem liegt an einem anderen Ort. Griechenland ist eine Klientelgesellschaft, oder volkstümlich gesagt: eine Vetterliwirtschaft. Der bekannte Politologe Francis Fukuyama stellt in seinem soeben veröffentlichten Buch «Political Order and Political Decay» fest:
In einer Klientelgesellschaft ist der Staat schwach, und er wird rücksichtslos in den Dienst der jeweils herrschenden Partei gestellt. In den schwach entwickelten Staaten Afrikas wird daraus kein Geheimnis gemacht. Als es beispielsweise in Kenya zu einem Machtwechsel kam, erklärte der neue starke Mann Michela Wrong offen: «Jetzt sind wir an der Reihe zu essen.»
Griechenland ist zwar keine Bananenrepublik, aber das Land hat keine unabhängige Verwaltung, leidet unter Korruption und der Staat hat Mühe, Steuern einzutreiben. Darunter leidet die Wirtschaft. Deshalb muss der Staat in die Lücke springen und Jobs schaffen, wo es gar keine braucht. Die jeweils regierende Partei schachert ihren führenden Mitgliedern wirtschaftlich sinnlose Arbeitsplätze zu.
Die beiden wichtigsten Parteien in Griechenland waren bis zur Krise die konservative «Neue Demokratie» des derzeitigen Premierministers Antonis Samaras und die Sozialisten der Pasok. Die beiden verhalten sich mehr wie afrikanische Stämme als wie moderne demokratische Parteien. «Anstatt nach einem Machtwechsel das Personal auszuwechseln, hat Griechenland den Staat einfach immer weiter ausgebaut», stellt Fukuyama fest. Das Resultat war eine Überschuldung und eine grotesk aufgeblähte Bürokratie.
Eine unabhängige Verwaltung und ein Rechtsstaat sind für die Wohlfahrt eines Staates von überragender Bedeutung. Sie müssen nicht zwangsläufig gekoppelt sein mit demokratischen Strukturen. In Europa wurde die erste unabhängige Verwaltung von den Preussen geschaffen, einem autoritären Staat. In Asien sind Staaten wie Singapur und Südkorea moderne Beispiele dafür, dass es für die wirtschaftliche Entwicklung reicht, wenn der Rechtsstaat funktioniert.
Die Klientelgesellschaft ist ein normaler Vorgänger der modernen Demokratie. In den USA und Grossbritannien wurde sie beispielsweise erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts überwunden, und in den Vereinigten Staaten hat dieser Prozess Jahrzehnte gedauert. In Griechenland hingegen soll dieser Prozess auf Druck der Troika (EU, EZB und IWF) in Windeseile vollzogen werden. «In den letzten Jahren hätten die Griechen auf Druck der Troika hunderte von neuen Gesetzen erlassen müssen, manchmal innert Wochen oder gar Tagen», schreibt die «New York Times».
Diese Reformen sind gescheitert. Selbst das konservative «Wall Street Journal» stellt ernüchtert fest, dass es Samaras nicht gelungen ist, aus der Vetterliwirtschaft auszubrechen. «In seiner Regierungszeit hat es kaum Fortschritte gegeben», schreibt das Blatt. «Und er präsentiert auch heute keine seriöse Reformagenda.»
Auch Fukuyama stellt fest: «Als die EU und der IWF von den Griechen strukturelle Reformen verlangten, waren sie zu jeder Form von Austeritätspolitik bereit, ausser die Patronage abzuschaffen.»
Unter Samaras ist Griechenland geblieben, was es vor der Krise schon war: Ein Land, in dem sich eine schmale Elite und ihr Parteianhang zulasten der Mehrheit an den Staatstöpfen gütlich tut. Mehr noch, der extreme Sparkurs hat die Lage noch dramatisch verschlimmert: Die Arbeitslosenquote beträgt mittlerweile mehr als 25 Prozent, bei den Jugendlichen mehr als 50 Prozent. Die Zivilgesellschaft zerfällt.
schreibt die «New York Times».
Griechenlands Wirtschaft wird nur dann auf die Beine kommen, wenn endlich die entsprechenden Institutionen und eine unabhängige Verwaltung geschaffen werden. Solange die traditionellen Parteien an der Macht bleiben, ist die Chance klein, dass dies auch geschehen wird.
Obwohl sie weit links stehen, sind Alexis Tsipras und seine Syriza-Partei daher die bessere Option für Griechenland. Sie sind noch nicht in die Vetterliwirtschaft integriert und haben die Chance, sauberen Tisch zu machen und die nötigen Reformen an die Hand zu nehmen.
Die aktuelle Diskussion um Griechenland ist von einem gravierenden Irrtum geprägt: Es geht nicht darum, den «verwöhnten» Griechen einen überrissenen Sozialstaat zu finanzieren. Einen Sozialstaat, wie wir ihn kennen, hat es in Hellas niemals gegeben. Es geht darum, endlich die griechische Klientelgesellschaft zu überwinden und einen modernen Staat zu schaffen.
Die linke Syriza-Partei ist dazu der bessere Partner, obwohl sie noch von teils unrealistischen Vorstellungen ausgeht. Mit ihr könnte die EU möglicherweise tatsächlich einen «New Deal» abschliessen, wie es Tsipras vorschlägt. Und in einem Punkt hat der Mann ja Recht: Es ist völlig unrealistisch, davon auszugehen, dass Griechenland je in der Lage sein wird, die bestehenden Schulden in der Höhe von 175 Prozent des Bruttoinlandprodukts zurückzubezahlen. Ein Schuldenerlass ist daher unumgänglich. In diesem Punkt sollte die EU ihren Bürgerinnen und Bürger endlich reinen Wein einschenken.