Vor rund drei Jahren äusserte der polnische Aussenminister Radoslaw Sikorski den bemerkenswerten Satz: «Ich habe weniger Angst vor deutscher Macht, als ich anfange, mich vor deutscher Inaktivität zu fürchten». Sikorskis Zitat ist heute aktueller denn je. Europas Schicksal liegt derzeit in den Händen von Berlin.
Zur Ausgangslage: In den letzten Wochen hat sich die Situation der Weltwirtschaft spürbar verschlechtert: Die Börsen sind nervös, die Rohstoffpreise fallen, die Wachstumsprognosen werden nach unten korrigiert. Am meisten Sorgen bereitet die Lage in Europa. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat in seiner jüngsten Prognose gar davor gewarnt, dass sich die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls in eine Rezession in den nächsten sechs Monaten verdoppelt habe.
Derweil wächst die Verzweiflung der betroffenen Menschen: Junge Italiener, Spanier, Franzosen, Griechen und Portugiesen haben das Gefühl, einer «verlorenen Generation» anzugehören, einer Generation, die um ihre Zukunft betrogen wird. Nur in Deutschland ist alles anders. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, hat soeben das Buch «Die Deutschland Illusion» veröffentlicht. Er beschreibt die Stimmung wie folgt: «Das Land heute ist enorm selbstbewusst. Es fühlt sich jedoch von Europa ausgenutzt und beginnt, dem gemeinsamen Kontinent den Rücken zu kehren.»
Tatsächlich hat Deutschland nach einer schweren Krise zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Krise bisher gut gemeistert und ist wieder die Wirtschaftslokomotive des alten Kontinents geworden. Die Arbeitslosenzahlen sind auf ein verträgliches Mass gefallen, der Staatshaushalt ausgeglichen. Trotz ihrer Erfolge verhalten sich die Deutschen – milde ausgedrückt – merkwürdig: Sie gleichen einem Geizkragen, der sein Haus verlottern lässt, sich in Lumpen kleidet, in einem Schrotthaufen herumfährt – und gleichzeitig Millionen im Kasino verspielt.
Deutschland hat dank seinen Exporterfolgen Milliarden im Ausland verdient. Trotzdem verlottert die Infrastruktur, ebenso wird zu wenig in Bildung investiert. «Dies bedeutet, dass Deutschland mit den hohen Ersparnissen und niedrigen Investitionen auf den heutigen Wohlstand verzichtet», stellt Fratzscher fest.
Schlimmer noch: Ob US-Subprimekrise oder europäische Staatsanleihen – stets haben deutsche Investoren massig Geld verbrannt. «Deutschland hat in den vergangenen 20 Jahren gesamtwirtschaftlich grosse Teile seines Vermögens verloren», schreibt Fratzscher. «Deutsche Unternehmen und Privatpersonen haben seit 1999 knapp 400 Milliarden Euro oder 17 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung zunichte gemacht.»
Wegen seiner Exporterfolge ist Deutschland in die Kritik geraten. Damit werde die Wirtschaft der anderen Euroländer platt gewalzt, heisst es. Doch streng genommen sind nicht die Exporte das Problem, sondern die Exportüberschüsse. «In Wirklichkeit sind nicht die deutschen Exporte zu hoch, sondern die deutschen Importe zu niedrig», stellt Fratzscher klar. «Kein Industrieland in der Welt spart so viel und investiert so wenig wie Deutschland. Und es gibt keinen guten Grund dafür.»
Die deutsche Wirtschaft stellt heute rund einen Drittel des europäischen Bruttoinlandprodukts (BIP) und etwa vier Prozent des globalen BIP her. Würde Deutschland einen Teil des damit erwirtschafteten Reichtums für dringend notwendige Investitionen im eigenen Land verwenden, dann könnte das der europäischen Wirtschaft endlich den notwendigen Schub verleihen, um der jahrelangen Stagnation zu entkommen. Politiker, IWF, Zentralbanker – alle flehen Berlin an, dies endlich auch zu tun. Bisher vergeblich.
Deutschland ist zwar stolz auf seine wiedergewonnene Wirtschaftspotenz, aber ebenso stur, wenn es um seine Wirtschaftspolitik geht. Bei den deutschen Ökonomen geht es nicht um den Nutzen, sondern ums Prinzip. Bestes Beispiel ist die offene Feindschaft des konservativen Lagers gegenüber der EZB. Obwohl Mario Draghi mit seiner Politik zwei Jahre lang für Ruhe gesorgt hat, haben deutsche Wirtschaftsprofessoren beim Verfassungsgericht Klage gegen seine Geldpolitik eingereicht.
Generell wächst in Deutschland die Feindschaft gegen Brüssel und das Misstrauen gegenüber dem Euro. Das ist doppelt absurd. Niemand hat mehr von der Einheitswährung profitiert als die deutsche Wirtschaft, und niemanden würde ein Kollaps des Euro härter treffen als die Deutschen. «Das Resultat einer wirtschaftlichen Desintegration wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit eine lange, tiefe Depression in ganz Europa, Deutschland eingeschlossen», erklärt Fratzscher. Auch die Schweiz würde davon nicht verschont werden, bleibt hinzuzufügen.
Bisher haben es die Deutschen jedoch vorgezogen, in einer Opferrolle zu verharren. Alle wollen unser Geld, wird zwischen Nordsee und den Alpen Bayerns gejammert. Anstatt ihrer Verantwortung als bei weitem wichtigste Wirtschaftsmacht Europas gerecht zu werden und die damit verbundene Führungsrolle zu übernehmen, verschliessen die Deutschen deshalb ihre Tresore und hoffen, dass es irgendwie trotzdem klappen wird. Eine Fehleinschätzung. «Sollte der Status quo erhalten werden, wäre eine wirtschaftliche Stagnation der Eurozone innerhalb des nächsten Jahrzehnts wahrscheinlich», stellt Fratzscher klar.