Als kleines Mädchen wollte sie Ärztin werden. Heute arbeitet Nabiha* in einer Fabrik. 300 Arbeiter in einem Raum. Die Luft ist feucht von den Wäschebergen, die sich bis unter die Decke der Halle türmen. Früher spendeten Deckenventilatoren etwas Kühlung. Doch als diese kaputt gingen, wurden sie nicht ersetzt. Es gibt drei Türen: eine für die Näherinnen, eine für die Vorgesetzten – und einen Notausgang. Es ist ihnen aber verboten, dorthin zu gehen.
Nabihas Pflicht ist es, die Qualität zu überprüfen. Tausende von Nähten von Jeans, T-Shirts und Jacken haben ihre jungen Augen schon kontrolliert.
Nur der Fabrikbesitzer weiss, wie viel die Kleidungsstücke am Ende kosten werden. Die Differenz zwischen Herstellungskosten und Verkaufspreis sind in Bangladesch ein Geheimnis. Menschen wie die 17-jährige Textilarbeiterin Nabiha haben danach nicht zu fragen.
In einigen Wochen jährt sich das Unglück von «Rana Plaza» zum ersten Mal. Am 24. April 2013 stürzt ein achtstöckiges Gebäude in Dhaka ein. 1132 Menschen verlieren ihr Leben. Zum Vergleich: Beim Einsturz der Twin Towers gab es 2726 Tote – bei 22 Stockwerken. Die Angehörigen der Opfer in Dhaka warten noch immer auf Entschädigungszahlungen.
Massenware aus dem Tiefpreisland Bangladesch stapelt sich in den Kleidergeschäften – auch in der Schweiz. Die Löhne der Näherinnen sind weit unter dem Existenzminimum. Auch die Gewinnmargen sind tief. Deshalb wurde in den letzten zehn Jahren des Booms auch wenig für die Gebäudesicherheit getan. Internationale Markenfirmen sind die Hauptverursacher dieser Preispolitik.
«Wir produzieren schöne Kleider für reiche Leute», sagt Nabiha. Sie will nicht urteilen. Sicher ist sie sich jedoch darin, dass die Käufer aus dem Ausland nicht wissen, unter welcher Belastung die neue Jacke, die sie gerade aus der Frühlingskollektion gekauft haben, produziert wurde. Nabihas Vater verkauft Obst auf der Strasse. Sie ist das älteste Kind der Familie. Ihre zwei jüngeren Schwerstern, ihren Bruder und ihre Mutter sieht sie selten.
Ein Leben in der Hauptstadt Dhaka ist für alle nicht zu finanzieren. Deswegen sind sie in ihrem Heimatdorf Madaripur geblieben. Ihre grösste Sorge, wenn sie abends erschöpft ins Bett fällt, sind ihre jüngeren Geschwister und ihre Zukunft in dem gerade wieder von politischen Unruhen gebeutelten Land.
Vor zwei Jahren kam Nabiha in das Sozialprogramm der Kinderhilfsorganisation «Save the Children», erhielt eine kurze Ausbildung und konnte so neben der Arbeit trotzdem in die Schule gehen. So konnte sie in einer Art Lehre ihre Fähigkeiten im Beruf verbessern. In Bangladesch arbeiten 4,5 Millionen Kinder in der Textilindustrie. Auf dem gesamten Markt gibt es rund 600 formale Lehrstellen. Bald wird sie ihren College-Abschluss machen.
Nabiha hat einen Plan: Sie möchte Karriere machen. Ihr Traum ist es, mit der Bekleidungsindustrie in ihrem Land zu wachsen, etwas zu ändern. Kauffrau wäre sie gerne. Dafür lernt sie Mathematik und Englisch, wie die ausländischen Mitarbeiter der Modelabels. Englisch sprechen heisst wichtig sein, Autorität geniessen.
Ihre eigene Kleidung kauft Nabiha auf einem Markt in der Nähe ihres Arbeitsplatzes. «Die sind billig und ich kann sie mir leisten», sagt sie. Manchmal bestellt sie auch beim Schneider. Das sei günstiger als Exportprodukte. Für ein Kleidungsstück zahlt sie gleich viel wie für die Monatsmiete ihres Zimmers. Dort kocht sie auch jeden Abend das Mittagessen für den nächsten Tag.
Reis, Nabiha liebt Reis. Wenn sie einmal Kauffrau werden würde, es gäbe scharfes Fisch-Curry und Huhn und Ei dazu. Die Kantine kann sie sich, wie die meisten Arbeiter, nicht leisten. Noch nicht.
*Name geändert