In der Psychologie gibt es ein bekanntes Experiment. Es geht wie folgt: Zwei Testpersonen erhalten zusammen 100 Franken. Nur eine davon darf entscheiden, wie dieser Betrag aufgeteilt werden soll, die zweite hat aber ein Vetorecht. Können sich die beiden nicht einigen, erhält keiner von ihnen etwas.
Am fairsten wäre es selbstverständlich, wenn jeder 50 Franken erhalten würde. Da Menschen nun mal Menschen sind, wird derjenige, der das Teilverhältnis bestimmen darf, versuchen, mehr für sich herauszuschinden. Bis zu einem Verhältnis von etwa 70:30 geht diese fiese Rechnung auf. Danach wird es schwierig. Derjenige, der nicht mitbestimmen kann, macht von seinem Vetorecht Gebrauch und verzichtet lieber auf seinen Anteil, als dass er in einen Deal einwilligen würde, der in seinen Augen komplett unfair ist.
Das Experiment gibt es in den verschiedensten Varianten und führt stets zum gleichen Resultat: Wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie in einem Spiel übers Ohr gehauen werden, dann verweigern sie irgendwann die Gefolgschaft, selbst wenn sie davon profitieren würden. Das gilt nicht nur im Testlabor, das trifft auch in der Realität zu.
In der Schweiz beispielsweise ist die Unterstützung der bilateralen Verträge mit der EU in den letzten Jahren deutlich geschwunden. Dabei betonen Ökonomieprofessoren und Unternehmer unisono, wie wichtig diese Verträge für unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand sind. Doch immer mehr Schweizerinnen und Schweizer haben offenbar das Gefühl, dass die Gewinne aus diesen Verträgen zu einseitig verteilt werden, und sagen deshalb: Lieber ein bisschen weniger Wohlstand und dafür mehr Fairness.
Für Robert Reich ist das keine Überraschung. «Wenn der Kapitalismus aufhört, die wirtschaftlichen Errungenschaft an die Mehrheit zu verteilen, dann wird er irgendwann nichts mehr zu verteilen haben – auch an die reiche Elite an der Spitze nicht», schreibt er in seinem jüngsten Buch «Saving Capitalism». Der ehemalige US-Arbeitsminister ist auch überzeugt, dass zumindest in den USA die kritische Grenze erreicht oder teilweise gar schon überschritten ist, an dem die Mehrheit die Gefolgschaft verweigert und sagt: «No deal».
Der amerikanische Mittelstand schrumpft. Das renommierte Pew Research Center hat in einer soeben veröffentlichten, ausführlichen Untersuchung festgestellt, dass der Anteil des Mittelstandes an der Gesamtbevölkerung erstmals seit den 1970er Jahren rückläufig ist. Die «Financial Times» fasst das zentrale Ergebnis wie folgt zusammen:
Was ebenfalls auffällt: Erstmals seit langer Zeit sinkt die Lebenserwartung der weissen Amerikaner im mittleren Alter. Edward Luce, US-Korrespondent der «Financial Times», kommentiert das wie folgt: «Es ist tragisch, dass so viele Leben verkürzt werden durch Selbstmord, Alkoholismus, eine grassierende Heroinsucht in den Vorstädten und die Abhängigkeit von Medikamenten.»
An dieser Stelle eine kurze Zwischenbemerkung: Die US-Verhältnisse lassen sich nicht im Massstab von eins zu eins auf die Schweiz übertragen. Parallelen sind jedoch unübersehbar.
Zurück zu Robert Reich. Er will den Kapitalismus nicht überwinden, sondern ihn wieder in einen Zustand bringen, in dem möglichst viele Menschen von den Früchten des effizienten Systems profitieren können. Das ist keine Utopie:
In den 30 goldenen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war der Kapitalismus ein ganz anderer als heute. Zwar gab es auch damals reiche und weniger reiche Menschen. Die extremen Unterschiede – die Tatsache etwa, dass heute ein CEO rund 300 Mal mehr verdient als ein gewöhnlicher Angestellter – waren noch bis zur Jahrhundertwende undenkbar.
Um wieder zu einem menschenwürdigen Kapitalismus zurückzufinden, müssen gemäss Reich zwei Grundirrtümer beseitigt werden: Der Glaube an den Gegensatz von Markt und Staat und die Vorstellung, dass der Lohn der Leistung entspricht.
Zuerst zum Gegensatz zwischen Markt und Staat: Ohne einen funktionierenden Staat gibt es auch keinen funktionierenden Markt, so Reich. Deshalb geht es nicht um mehr oder weniger Staat, sondern darum, welche Spielregeln gelten und wer davon profitiert:
Hier ein Beispiel aus der Praxis: Das Patentrecht schützt grundsätzlich das geistige Eigentum. Dagegen ist nichts einzuwenden. Heute wird das Patentrecht beispielsweise in der Pharmaindustrie dahingehend missbraucht, dass Grosskonzerne ihre auslaufenden Patente mit Tricks verlängern können oder Preisabsprachen mit Generika-Herstellern treffen. Beides führt dazu, dass Konsumenten viel zu viel für Medikamente bezahlen müssen. Es ist daher nicht der Markt, der Schuld an der Misere ist, sondern die Regeln, die falsche Anreize schaffen.
Die falschen Spielregeln begünstigen in erster Linie die Grosskonzerne. Sie erhalten Steuervergünstigungen und Subventionen, indem sie – plump ausgedrückt – die Politik kaufen. Ohne die Spenden der Grosskonzerne und der Banken geht in der US-Politik nichts mehr. Das hat dazu geführt, dass die Spielregeln immer mehr zugunsten eben dieser Grosskonzerne ausfallen:
Mit anderen Worten: In den USA hat eine verzerrte Marktwirtschaft den kritischen Punkt des eingangs zitierten Tests erreicht. Niemand glaubt mehr daran, dass Lohn ein gerechter Gegenwert für erbrachte Leistung ist. Das macht die Menschen zynisch und vergiftet das politische Klima. «Menschen, die überzeugt sind, dass sie vom System über die Ohren gehauen werden, sind eine leichte Beute für politische Demagogen mit schneller Zunge und dummen Ideen», schreibt Reich.
Reich glaubt daran und plädiert dafür, dass die Spielregeln wieder geändert werden, dass ein solider Staat dafür sorgt, dass der Markt seinen Segen an alle verteilt. Der Kapitalismus muss nicht überwunden, er muss neu organisiert werden. «Ein tugendhafter Zyklus ist machbar», so Reich. «Ein Zyklus, in dem ein breit verteilter Wohlstand mehr inklusive politische Institutionen schafft, die wiederum dafür sorgen, dass der Markt noch mehr Möglichkeiten und Optionen für noch mehr Menschen schafft.»
Die Neuorganisation des Kapitalismus ist weder eine technische noch eine ökonomische Angelegenheit. «Es ist eine Herausforderung für die Demokratie», schreibt Reich.
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)