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Nach dem Nobelpreis ist die Wahl zur «Person of the Year» durch das «Time-Magazine» so ziemlich die höchste Auszeichnung, die man erreichen kann. Dieses Jahr gebührt diese Ehre Angela Merkel. Die leitende «Time»-Chefredakteurin Nancy Gibbs begründet die Wahl der Bundeskanzlerin wie folgt: «Sie hat mehr von ihrem Land verlangt, als andere Politiker wagen würden, weil sie sich der Tyrannei entgegenstellt, und weil sie in einer Welt eine unerschütterliche moralische Führung gibt, in der es daran mangelt.» Auch die «Financial Times» hat ihr den gleichen Titel verliehen.
Für Merkel trifft jedoch die alte Wahrheit zu, wonach der Prophet im eigenen Lande nichts gilt. Während das Ausland die Kanzlerin für ihre Flüchtlingspolitik feiert, wird Mutti im eigenen Land angefeindet wie noch nie. Thilo Sarrazin, umstrittenes SPD-Mitglied und Autor des Bestsellers «Deutschland schafft sich ab», verortete Merkels Flüchtlingspolitik irgendwo «zwischen irre und verantwortungslos». Stefan Aust, der zum Vorzeige-Konservativen mutierte ehemalige «Spiegel»-Chef lästert derweil, Merkel verkaufe Untätigkeit als Politik.
Regelmässig haut auch NZZ-Chefredaktor Eric Gujer in diese Kerbe und öffnet die Meinungsspalten seiner Zeitung für Merkel-Kritiker jeglicher Couleur. So durfte sich unter dem Titel «Merkeldämmerung» der ehemalige «Bild»-Chefredaktor Hans-Hermann Tiedje auf einer ganzen Seite austoben. Die Kanzlerin sei angezählt, stellt der einst harte Hund von «Bild» fest, und zudem komplett überfordert. Ihre Parole «Wir schaffen das» sei Schall und Rauch und die Kanzlerin mit ihrem Latein am Ende.
«Seit Wochen ist Angela Merkel in den Umfragen im Sinkflug», spottet Tiedje. «Beliebt noch bei grünen Menschheitsrettern, dem Philosophen Habermas und dem indischstämmigen TV-Populärphysiker Ranga Yogeshwar.» Selbst die eigene Partei habe Mutti fallen lassen und die Frage laute eigentlich bloss noch: «Wann zieht Wolfgang Schäuble den Stecker raus?»
Ob’s was nützt? In der Vergangenheit hat Merkel mehrfach bewiesen, dass ihr mit harten Macho-Sprüchen nicht beizukommen ist. Der Weg der Pastorentochter aus der DDR an die Spitze der deutschen Politik ist gepflastert mit männlichen Leichen: Ihren Förderer Helmut Kohl hat sie in einer Formschwäche nach dem Parteispenden-Skandal kaltgestellt, bevor er realisierte, wie ihm geschah. Super-Macho Gerhard Schröder hat sie nach seiner Wahlschlappe in einer legendären TV-Diskussion der Lächerlichkeit preisgegeben. Mehrere CDU-Landesfürsten, die glaubten, mit «Kohls Mädchen» leichtes Spiel zu haben, sind längst in der politischen Versenkung verschwunden. Selbst der russische Präsident Wladimir Putin hat sich in der Ukraine-Krise an der Kanzlerin die Zähne ausgebissen.
Merkel ist nicht nur hart, sondern auch unberechenbar. Im ersten Halbjahr 2015 hat sie zusammen mit ihrem Finanzminister Schäuble das Griechenduo Tsipras/Varoufakis niedergerungen und wurde dafür mit anhaltendem Applaus aus den Oststaaten bedacht. Umso verblüffter mussten die Regierungschefs von Ungarn, Tschechien, Polen und der Slowakei kurz darauf ihre Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik zur Kenntnis nehmen und wurden prompt auf dem falschen Fuss erwischt.
Inzwischen schäumt das osteueropäische Politestablishment vor Wut. Ungarns Premier Viktor Orban bezeichnete Merkels «Willkommenskultur» gar als «moralischen Imperialismus». Die Kanzlerin zeigt sich unbeeindruckt. «Wenn man in der Flüchtlingskrise kein freundliches Gesicht zeigen darf, ist das nicht mein Land», entgegnet sie ihren Kritikern.
Viele vermuten, dass am Anfang der Willkommenskultur ein Vorfall in Rostock stand. Ein 14-jähriges Palästinensermädchen erklärte der Kanzlerin vor laufender Kamera und in perfektem Hochdeutsch, warum es für sie so wichtig sei, dass sie in Deutschland bleiben und eine Matur machen könne und nicht in ein Flüchtlingslager in den Libanon abgeschoben werde. Merkel reagierte ungerührt und abweisend. Das Video dieses Vorfalls ging viral und löste einen Shitstorm aus. Das Mädchen durfte übrigens bleiben.
Nur wenige Wochen später öffnete Deutschland die Grenzen und Merkel posierte in einem Selfie mit Flüchtlingen und löste im ganzen Land eine Sympathiewelle für die Flüchtlinge aus. Tat sie dies aus echter Sorge? Wollte sie das nach dem Griechen-Bashing wieder aufflammende Nazi-Image korrigieren? Oder wollte sie ganz einfach junge Arbeitskräfte ins überalterte Land holen? So genau weiss das niemand. In der «Financial Times» sagt eine nahe Merkel-Mitarbeiterin bloss sybillinisch: «Sie ist weder eine weisse Hexe noch Mutter Teresa.»
In der Flüchtlingsfrage hat Angela Merkel eine Seite gezeigt, die man von ihr nicht gekannt hat. Bisher galt sie als geniale Zögerin, die stets so lange zugewartet hat, bis sie eine sichere politische Mehrheit hinter sich wusste und dabei stets die Meinungsumfragen im Auge behielt. Für dieses Verhalten erhielt die deutsche Sprache sogar einen neuen Begriff: «merkeln».
Mit «merkeln» hat ihre Flüchtlingspolitik nichts zu tun. Die Kanzlerin hat Geschichte geschrieben und die Zukunft Europas in neue Bahnen gelenkt. Bloss ist derzeit noch nicht absehbar, wohin die Reise führen wird. Sollten die Anhänger der «Merkeldämmerung» Recht bekommen, stehen uns turbulente Zeiten bevor. «Financial Times»-Politkommentator Philip Stephens warnt gar: «Wird Angela Merkel gestürzt, dann wird Europa zusammenbrechen».