Allgemein ist die Stimmung unter den Ökonomen für
2018 sehr positiv. Gehören Sie auch zu den Optimisten?
Leider. Ich fühle mich
eigentlich wohler, wenn ich eine kontroverse Meinung vertreten kann.
Was sind die Gründe für Ihren Optimismus?
Die Aktienquote der
institutionellen Anleger und der privaten Investoren liegt immer noch deutlich
unter dem historischen Durchschnitt. Es gibt also noch viel Luft nach oben. Trotz
rekordhohen Aktienkursen befinden wir uns noch nicht im Zustand der Euphorie.
2009 lag der Schweizer Aktienindex SMI noch bei
4300 Punkten, jetzt bei 9300 Punkten. Wer hat also Aktien gekauft und die Kurse
in die Höhe getrieben?
Die grössten Käufer
waren die Finanzchefs der Unternehmen. Sie haben gemerkt, dass es sich lohnt,
mit fremdem Geld eigene Aktien zu kaufen und so die Eigenkapitalrendite zu
erhöhen. 80 Prozent der Aktienkäufe der letzten Jahre sind auf dieses Phänomen
zurückzuführen. Die Hausse wird erst vorbei sein, wenn auch die
institutionellen und die privaten Anleger im grossen Stil eingestiegen sind.
Viele Investoren haben so die Hausse verpasst.
Sprechen wir deshalb von einem «ungeliebten Boom»?
Die Investoren haben
immer noch ein merkwürdiges Risikoverhalten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In
diesem Sommer hat die Swisscom eine Anleihe mit einer Laufzeit von zehn Jahren
und einer jährlich garantierten Rendite von 0,3 Prozent aufgelegt. Sie war
innert Minuten sechsfach überzeichnet. Die Swisscom-Aktie hingegen dümpelt vor
sich hin. Sie ist zwar relativ teuer, aber trotzdem ist allein die Dividende deutlich
attraktiver als der Zins der Anleihe. Offenbar fehlt der Mut, Aktien zu kaufen.
Der Mut wurde belohnt. Ein tüchtiger Vermögensverwalter
– etwa beim Wealth Management der Credit Suisse – hat im laufenden Jahr dank den
Aktien eine Rendite von zehn Prozent oder gar mehr erzielt. Steigt jetzt der
Druck, auf Aktien umzusteigen?
Das ist in erster
Linie eine Frage des Risikoprofils des Kunden. Aber ich denke schon, dass jetzt
Begehrlichkeiten geweckt worden sind. Das sieht man daran, dass wir, weltweit
gesehen, 2017 leicht mehr Aktien- als Obligationenkäufe gesehen haben. Aber es
ist immer noch eine «ungeliebte Hausse» ohne Euphorie. Wer sich an die 90er-Jahre erinnern kann, weiss: Das hat
sich ganz anders angefühlt.
Es gibt aber auch Kollegen von Ihnen, die von
einem Spätzyklus sprechen. Kommt nicht zu spät, wer jetzt einsteigt?
Früh-, Spät-,
Mittelzyklus – mit diesen Einordnungen habe ich Mühe. Die Geschichte geht immer
weiter. Wo genau soll der Anfang und wo das Ende sein? Das liegt immer im Auge
des Betrachters. Was wir hingegen mit Sicherheit sagen können, dass die
aktuelle Aktienhausse bereits heute zu den längsten überhaupt gehört.
Wie lange geben Sie dieser Hausse noch?
Diese Frage führt zu
gar nichts. Vermögensverwaltung lebt nicht von gescheiten Langfristprognosen,
sondern von flexiblen Anpassungen, die im Hier und Heute funktionieren. Wenn
wir ins 2018 schauen, dann könnten wir uns gar keine besseren Voraussetzungen
wünschen: Starkes, synchrones Wachstum der Weltwirtschaft; der stärkste Aufschwung
seit vielen, vielen Jahren; praktisch keine Inflation und wahrscheinlich
kriegen wir noch Steuergeschenke und Infrastrukturimpulse obendrauf. Wir haben
eine marktfreundliche Geldpolitik der Notenbanken und eine aufgestaute
Nachfrage nach Aktien. Es müsste also schon mit dem Teufel zugehen, wenn etwas
schief gehen sollte.
In den USA hat die Notenbank Fed soeben eine
Erhöhung der Leitzinsen beschlossen, mindestens zwei weitere werden
wahrscheinlich folgen. Ist das keine Gefahr für die Hausse?
Die Fed will damit
zeigen, dass sie Herr der Lage ist und eine unabhängige Geldpolitik betreibt.
Für die Wirtschaft bedeutet es konkret
wenig. 2008 hat die Fed die Zinsen innert
Wochen um fünf Prozentpunkte gesenkt. Jetzt braucht sie Jahre, um sie in
Viertelprozentschritten wieder zu erhöhen. Objektiv gesehen gibt es auch kaum
Grund, die Zinsen hochzufahren, da keine nennenswerte Inflation zu verspüren
ist.
Wird die Trump’sche Steuerreform einen
zusätzlichen Wachstumsschub auslösen?
Sehr wahrscheinlich
schon. Sie schafft Investitionsanreize und hilft amerikanischen Unternehmen,
ihre Gewinne aus dem Ausland zu repatriieren. Das ist auch ein Grund, weshalb
das Vertrauen ins nächste Jahr so gross ist.
Hat der immer stärker werdende politische
Backlash gegen Trump keine wirtschaftlichen Konsequenzen?
Kaum. Schwankende
Popularitätswerte des Präsidenten haben höchstens indirekten Einfluss auf die
Wirtschaft.
Was ist, wenn der Konflikt mit Nordkorea in
einen Krieg ausarten sollte?
Für mich ist es das Risiko
mit der grössten Auswirkung und der geringsten Eintretens-Wahrscheinlichkeit.
Beide Seiten wissen letztlich, dass eine militärische Eskalation nicht
zielführend wäre.
Ihr Wort in Gottes Ohr. Liegt das geopolitische
Risiko also beim Konflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien?
Nein, auch diese
beiden Antagonisten würden sich zwar am liebsten auf den Mond schiessen, doch
auf der Erde sind ihnen die Hände gebunden. Beide sind nicht in der Lage, einen
militärischen Konflikt zu initiieren. Deshalb haben wir die Kriege in Jemen und
im Libanon, typischerweise Länder ohne Erdöl.
Wo liegen demnach die geopolitischen Risiken?
Asien ist der
Kontinent der eingefrorenen Konflikte. In den letzten 40 Jahren hat Asien einen
gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, dank der US-Schutzherrschaft,
der Pax Americana. In der Ära Trump ziehen sich die USA allmählich zurück, die
Welt wird multipolar. Amerika wird nicht mehr als Schutzherr, sondern als
Rivale betrachtet. Es ist heute nicht mehr so klar, wer wessen Feind oder
Freund ist. Wo stehen die Philippinen, Taiwan, Thailand oder Indonesien?
Wo steht China? Die zweitgrösste
Volkswirtschaft ist der wichtigste Treiber des Wachstums der Weltwirtschaft
geworden. Wird China dies weiterhin leisten können?
China war vor rund 150
Jahren die grösste Volkswirtschaft der Welt – und will dies wieder werden.
Dieser Wille ist nicht nur beim Präsidenten Xi Jingpin vorhanden, sondern auch beim
Volk. Man will den Platz zurückerobern, der dem Land historisch zusteht. Der
einzige Weg dazu führt über Wohlstand und eine moderne Infrastruktur.
Der Weg führt aber nicht über Marktwirtschaft
und Demokratie, wie lange gehofft wurde.
Präsident Xi hat in
seiner ersten Legislaturperiode sehr viel politisches Kapital angehäuft. Er hat
den Staat und ein unabhängiges Gerichtssystem gefestigt. Er hat in Skandalen
wie bei der vergifteten Babynahrung und den Korruptionsfällen immer die Seite
des Volkes vertreten. Er hat die Infrastruktur modernisiert und ist im Begriff,
die Energiewirtschaft ökologisch umzubauen.
Wow! Das tönt geradezu euphorisch.
Ich stelle nur
objektive Meilensteine fest. Das politische Kapital hat Xi ermöglicht, sich
beim letzten Kongress der kommunistischen Partei Chinas ein ihm ergebenes
Politbüro zusammenzustellen. Jetzt will er das ausufernde Schuldenwachstum in
den Griff bekommen. Es handelt sich dabei um lokale und regionale Schulden, die
in der eigenen Währung notiert sind. Sie stellen damit keine Gefahr für das
globale Finanzsystem dar.
Wie aber ist der Schuldenabbau mit einem
Wirtschaftswachstum von sechs Prozent vereinbar?
Wahrscheinlich überhaupt
nicht, aber das ist nicht weiter tragisch. Es geht jetzt darum, Chinas
Wirtschaft vermehrt auf die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung und nicht auf
den Export abzustimmen. Dazu hat der Staat genügend Möglichkeiten.
Der Aufschwung der Schwellenländer endet
regelmässig in einem Crash. Wird dies auch diesmal der Fall sein,
beispielsweise in Russland?
Tiefer Ölpreis und die
Sanktionen haben den Russen in den letzten Jahren eine schwere Rezession
beschert. Sie haben es trotzdem geschafft, ihre Wirtschaft autark zu machen –
in der Nahrung und in der Industrie –, und
dank einer vernünftigen Chefin der Zentralbank haben sie eine
erstaunlich vernünftige Geldpolitik. So gesehen kann ich mir keinen Crash
vorstellen.
Brasilien ist auch ein Land mit einer
grossartigen Zukunft, die nie eintrifft.
Ich glaube sehr an
Brasilien. Die Menschen haben heute ein viel höheres Bildungsniveau als noch
vor 20 Jahren. Dazu ist das Land riesig und hat alle Rohstoffe, die wir
brauchen. Die Wirtschaft kommt ebenfalls
aus einer tiefen Rezession, die Zinsen fallen. Wenn wir also eins und eins
zusammenzählen, dann müssten auch die Brasilianer ein gutes Wachstum
hinkriegen.
Die grösste Überraschung ist die spektakuläre Wiedergeburt
der europäischen Wirtschaft. Wie ist sie zu erklären?
Die Voraussetzungen
dazu waren so gut wie schon lange nicht mehr.
Weshalb? Die Eurokrise ist noch nicht bewältigt,
die Bankenunion ist halbpatzig und die Konjunkturlokomotive Deutschland muss
mit einer provisorischen Regierung leben.
Ausgelöst wurde der
europäische Aufschwung durch die Wahl von Emmanuel Macron zum Präsidenten
Frankreichs. Deutschland und Frankreich – die beiden Zugpferde Europas – ziehen
jetzt wieder am gleichen Strick. Das Duo Merkel/Macron passt ideal zusammen.
Und übrigens: Merkel wird es auch gelingen, eine Regierung zusammenzustellen.
Man
könnte jedoch auch die Meinung vertreten: Was Macron gewonnen hat, hat Merkel
verloren.
Der deutsche Bundestag
ist eines der europafreundlichsten Parlamente der Eurozone.
Euro, und vor allem Eurobonds, sind bei der
Bevölkerung hingegen weniger beliebt.
Drei von vier
Deutschen stimmen dem Euro und der Einheitszone zu. Das ist auch verständlich,
Deutschland ist schliesslich der grösste Gewinner von Euroland. Egal, welche
Koalition Merkel wählen wird – es wird wohl eine Koalition mit der SPD hinauslaufen
–, sie wird die europafreundlichste Regierung sein, die man sich vorstellen
kann.
Damit wird der Aufstieg der AfD weiter
beschleunigt.
Das wird erst in vier
Jahren ein Problem sein. Aktuell will Merkel Geschichte schreiben, wie dies die
meisten Politiker am Ende ihrer Karriere wollen. Das europäische Projekt ist
ihr wichtig – und sie will ein Vermächtnis hinterlassen.
Frankreich gilt derweil als der neue kranke
Mann Europas.
Das Vorurteil, dass
die Franzosen lieber Wein trinken und gut essen, anstatt hart zu arbeiten,
teile ich überhaupt nicht. Das ist totaler Blödsinn. Ich glaube vielmehr, dass
Frankreich sich als ein unerwarteter Gewinner herausstellen wird, wie andere
«kranke Männer Europas» zuvor, beispielsweise Grossbritannien, Schweden,
Deutschland und Spanien.
Bleibt noch die Schweiz. Wie sehen Sie unser Land?
Es geht uns gut, so
gut, wie schon lange, lange nicht mehr: Starker Franken hin oder her, die
Auftragsbücher sind voll.
Der Franken ist ja gar nicht mehr so stark.
Der Franken ist seit
120 Jahren die stärkste Währung der Welt. Ich sehe aus erster Hand, wie
Schweizer Unternehmer unglaublich gut damit umgehen können. Sie sind flexibler und adaptiver als alle
anderen, sie passen sich den veränderten Bedingungen blitzartig an. Wir haben
nicht nur wettbewerbsfähige Unternehmen, wir haben einen liberalen Staat – und
wir haben das Glück, dass Süddeutschland, Norditalien, Frankreich und
Österreich unsere Nachbarn sind.
Ist es denkbar, dass die Schweizerische
Nationalbank (SNB) in diesem Umfeld die Leitzinsen erhöhen wird?
Das wird ganz, ganz
piano gemacht. Der Wechselkurs ist nach wie vor wichtiger, deshalb wird die SNB
wohl abwarten, was die Europäische Zentralbank tun wird. Sollte der Euro über
1,20 Franken hinausschiessen, dann könnte das allenfalls Handlungsspielraum für
die SNB geben.
Zum Schluss die Gretchenfrage des Jahres: Wie
halten Sie es mit den Kryptowährungen?
Ich bin überrascht,
wie die Medien den Begriff «Kryptowährung» kritiklos übernehmen. Wieso sind
Bitcoin & Co. eine Währung? Für mich ist eine Währung ein Zahlungsmittel,
das durch einen souveränen Staat emittiert wird. Bitcoin hingegen ist bloss ein
Zahlungsmittel, mehr nicht. Das ist nichts Neues. Auch die Flugmeilen der
Airlines, das Wir-Geld oder die Coop-Supercard sind Zahlungsmittel. Niemand
käme auf die Idee, sie als Währung zu bezeichnen.
Wie erklären Sie den Hype?
Ich bin nicht in der
Lage, Zahlungsmittel zu bewerten. Bei einer Währung kann ich etwa abschätzen,
welche Steuereinnahmen der Souverän hat. Bei Bitcoin & Co. sehe ich keine
Rendite oder einen Zins auf der Währung.
Mit anderen Worten: Es ist ein
Tulpenzwiebeln-Boom?
Auf jeden Fall spielt
sich das ausserhalb meines anlagepolitischen Radars ab.
Müssten Sie sich nicht langsam darum kümmern?
Zwei Börsen in Chicago geben nun Derivate auf Kryptowährungen heraus, einzelne
Banken beginnen, damit zu handeln.
Ich kann nur
wiederholen – und das ist meine private Meinung: Ich verstehe nicht, weshalb
die Medien Bitcoin als Währung bezeichnen. Es ist ein Zahlungsmittel, das
derzeit beliebt zu sein scheint. Die ganze Aufregung ist wegen der
aussergewöhnlichen Preisentwicklung entstanden.
Von Charles Prince, dem ehemaligen Chef der
Citigroup, stammt das legendäre Zitat: «Solange die Musik spielt, muss man tanzen.»
Muss die CS nicht auch die Kryptowährungen zum Tanz aufbieten, weil ihre Kunden
das wünschen?
Ich bin kein Experte
auf diesem Gebiet. Aber die Umsätze scheinen mir immer noch relativ klein zu
sein. Bei uns sind sie noch vernachlässigbar.