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Nähen für Fälscher: Undercover in der serbischen Jeansfabrik

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Undercover bei den Fälschern: Wie ich in Südserbien für eine handvoll Euro gefälschte Jeans zusammennähte

27.12.2015, 22:3201.03.2016, 16:40
muhamed beganovic, reportagen
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Eine dichte Dunstglocke hat sich an diesem kalten Oktobermorgen wie ein Fischernetz über Novi Pazar gelegt. Keine Seele ist auf der engen Strasse am Ende des Wohnviertels zu sehen, niemand zu hören. Irgendwie unheimlich. Die Eingangstür klemmt und quietscht wie eh und je, Denis vergisst ständig, die Scharniere zu fetten.

Die Manufaktur sieht von aussen unauffällig aus. Sie ist versteckt in einem ehemaligen Lebensmittelladen mit rostigen Eisenstangen an den Fenstern. Ich sperre die Tür hinter mir zu. Der Raum ist gute 20 Meter breit, zehn Meter lang und sieht deprimierend aus. Weiss gestrichene, nackte Wände, von denen der Verputz bröckelt. Es gibt kein natürliches Licht, denn die Fensterscheiben sind mit Papier tapeziert. Ein Dutzend Leuchtstoffröhren sorgt für schummrige Beleuchtung.

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Ich fühle mich wie in einem Brutkasten für Hühner. Auch an einer Lüftung oder sonst einer Art von Frischluftzufuhr fehlt es, also kann man das, was wir Arbeiter hier einatmen, nicht als Sauerstoff bezeichnen. Es ist drinnen mindestens genauso kalt wie draussen, weshalb auch alle in ihren Jacken arbeiten. 24 Arbeitstische, nicht grösser als Schulbänke, mit je einer Nähmaschine darauf, stehen wie in zwei Reihen dicht aneinander. Der Boden bettelt darum, einmal ordentlich gekehrt zu werden.

Zehn Tage arbeite ich hier schon undercover. Ich kam, um am eigenen Leib zu spüren, wie es ist, in der südserbischen Stadt Novi Pazar für ein paar Euro am Tag Jeans zu nähen. Und weil ich wissen wollte, wie die einst blühende Textilindustrie Serbiens zur Fälscherwerkstatt des Balkans werden konnte. Heute wird mein letzter Tag sein.

In meiner Zeit hier bin ich zum Experten fürs Knopfloch-­Nähen avanciert. Die elektrische Nähmaschine an meinem Arbeitsplatz war irgendwann bestimmt weiss, mittlerweile hat sie eine gelbliche Farbe. Sie ist die älteste Maschine im Haus und könnte so, wie sie aussieht, aus der Zeit der industriellen Revolution stammen. Sie steht auf einem schmutzigen Tisch voller Risse, Kratzer und kleiner Löcher.

Unter der Tischplatte befindet sich ein Schalter, mit dem man die Maschine ein- und ausschaltet. Als Antrieb dienen zwei Zahnräder, die mit einem Riemen verbunden sind und permanent in Bewegung bleiben, auch wenn die Maschine nicht näht.

An einer Lüftung oder sonst einer Art von Frischluftzufuhr fehlt es, also kann man das, was wir Arbeiter hier einatmen, nicht als Sauerstoff bezeichnen.

Ich sitze auf einem alten Schulsessel aus Sperrholz, ohne Rückenlehne. «Wozu auch?», fragte mein Chef Denis spöttisch. Ich würde ohnehin den ganzen Tag über die Maschine gebeugt verbringen. Meine Kollegen sitzen auf ähnlich monströsen Sesseln oder auf ausgedienten Ikea-Küchenhockern.

Ein paar haben Sitzkissen von zu Hause mitgenommen. Ich wusste zuerst nicht, wozu die gut sein sollen, bis ich mir am allerersten Arbeitstag eine schlimme Steissbeinentzündung holte. Das passiert, wenn man zu lange auf einem Möbelstück sitzt, welches ebenso gut für Folterzwecke verwendet werden könnte.

Neben dem Tisch liegt ein kleiner Berg Jeans von gestern. Jedes Paar kriegt ein Loch. Es ist die leichteste Aufgabe im Haus, und ich mache sie wirklich gerne.

Sieben Uhr. Die Arbeit beginnt mit einem Lied aus den 80er Jahren, das aus einem ebenso alten Radio ertönt. «Put me zove moram poći» (Der Weg ruft mich, ich muss aufbrechen) singen ein paar Kollegen mit, alle anderen sitzen hinter ihren Tischen und drehen die Maschinen auf. Deren penetrantes Geräusch, das ungefähr so klingt wie das Summen eines verärgerten Bienenstockes, welches von einem Megafon verstärkt wird, dominiert den Raum. Wenn ich nicht ohnehin schon einen chronischen Tinnitus hätte, würde ich ihn hier sicherlich bekommen.

Neben dem Tisch liegt ein kleiner Berg Jeans von gestern. Jedes Paar kriegt ein Loch.
Bild: Muhamed Beganovic

Ich lege einige Jeans auf meinen Schoss. So habe ich das bei meinen Kollegen beobachtet. Dann nehme ich ein Paar und lege den Hosenbund unter die Nadel. Der Materialstoff ist dunkelblau, fühlt sich rau an und verfärbt sich leicht. Die Farbe bleibt an den Fingern kleben. Erst nach dem Waschen mit Bimsstein wird eine Jeans fein und aufgehellt. Konzentriert versuche ich, die Mitte des etwa acht Zentimeter hohen Bundes zu treffen.

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Wenn ich nicht ohnehin schon einen chronischen Tinnitus hätte, würde ich ihn hier sicherlich bekommen.

«Der Knopf wird oberhalb des Reissverschlusses platziert. Also schau, dass du das Loch so nähst, dass der Knopf dann auch hineinpasst.» Mit dieser vagen Beschreibung brachte mich Denis damals zum Schmunzeln, als er mir die Aufgabe erklärte. Aber ich hatte verstanden. Die Naht soll etwa eine halbe Daumenlänge vom Rand beginnen. Mit einem Schalter links neben der Nadel senke ich den Fuss und befestige das Material an der Stichplatte, jener kleinen Platte mit einer Öffnung, durch welche die Nadel dringt. Dann drücke ich auf einen Knopf links neben dem Zahnrad, und die Maschine übernimmt den Rest.

Brrrrrrrrrrrrrrrrrrrmmm. Sie näht eine vorprogrammierte Länge. Die Naht verläuft horizontal und hat eine Zickzack-Form. Daraufhin macht die Maschine automatisch eine Umkehrung von 180 Grad und näht wieder zurück zum Ursprung. Anschliessend schneidet ein kleines, integriertes Messer das Loch auf. Der letzte Schritt erinnert an eine Enthauptung mit einer Guillotine. Das Messer, gut versteckt direkt neben der Nadel, kommt aus dem Nichts und verschwindet, bevor man etwas mitbekommt.

Anschliessend schneidet ein kleines, in die Maschine integriertes Messer das Loch auf. Der letzte Schritt erinnert an eine Enthauptung mit einer Guillotine.

Denis sagt, dass diese Maschine die meisten Arbeitsverletzungen verursacht, weil die Arbeiter manchmal unachtsam mit ihr umgehen. Diese Lektion habe ich auf die harte Tour gelernt, als ich vor einigen Tagen den Hosenbund von der Platte nehmen wollte und mich das Messer am linken Mittelfinger streifte.

Das Nähen der Knopflöcher ist eine monotone Aufgabe, die praktisch keine Denkkraft benötigt. Darum mag ich sie auch. Ich bin der Herr der Maschine und entscheide über mein Arbeitstempo. Meistens beende ich den Stapel der gestrigen Jeans schnell und warte, bis meine Kollegen ein paar Stück zusammengeflickt haben. Sie sind ein besser eingespieltes Team als Real Madrid. Einer näht die vorderen Hosentaschen, ein anderer flickt die Hosenbeine zusammen, ein weiterer ist für die Gürtelschlaufen zuständig. Um mich kurz zu fassen: Jeder von uns hat eine bestimmte Aufgabe, für die er zuständig ist.

Die Meister unter uns übernehmen mehrere Aufgaben. Unter anderem machen sie die Feinarbeit, wie zum Beispiel das «pocket stitching», also das Nähen der Dekornaht auf den Gesässtaschen, die das Markenzeichen des Herstellers darstellt.

Wir arbeiten hier mit Maschinen und Methoden wie vor 30 Jahren. Heutzutage gibt es vollautomatische Maschinen, doch die kann sich Denis nicht leisten. Fast zwei Dutzend Arbeitsschritte werden benötigt, um, je nach Jeans, 20 bis 30 oder, bei den modisch-­zerrissenen Jeans, bis zu 60 Elemente zusammenzunähen. Eigentlich erstaunlich. Ich habe mich noch nie damit auseinandergesetzt und würde es wahrscheinlich auch nie tun, wäre ich nicht Teil des Produktionsprozesses geworden.

Meistens beende ich den Stapel der gestrigen Jeans schnell und warte, bis meine Kollegen ein paar Stück zusammengeflickt haben. Sie sind ein besser eingespieltes Team als Real Madrid.

Ist das aber nicht irgendwie typisch für uns Konsumenten? Niemand denkt wirklich über die Güter nach, die man kauft, bis eine «Galileo»-Doku auf ProSieben gezeigt wird, die einem vor Augen führt, wie diese hergestellt werden oder woher die Inhaltsstoffe kommen.

Mir ist langweilig, also gehe ich zu Tarik zum Plaudern. Er ist einer der Nähmeister und der Herr des Radios. Nur er darf es ein- und ausschalten oder den Sender wechseln. Tarik ist ein hagerer Mann mit rauen Seemannshänden und einem George-Clooney-Lächeln, allerdings fehlen ihm vier Vorderzähne am Unterkiefer. Er ist ein geselliger Typ, der nicht weiss, wann er mit Reden aufhören soll. Vor kurzem ist er 57 Jahre alt geworden, sieht aber älter aus.

Der Materialstoff ist dunkelblau, fühlt sich rau an und verfärbt sich leicht. Die Farbe bleibt an den Fingern kleben.
Bild: Muhamed Beganovic

20 Jahre arbeitet er schon als Näher. Davor hat er Socken, Unterhosen und Unterhemden auf dem lokalen Markt verkauft. «Die meisten Menschen versuchen, eine andere Arbeit zu finden. Nähen ist der letzte Ausweg.» Das alles hat er mir an meinem ersten Tag während der halbstündigen und einzigen Pause verraten. Heute möchte ich etwas anderes wissen.

«Wie lange arbeitest du schon für Denis?»

«Sechs Monate. Ich habe eine legale Stelle in einer Textilfabrik aufgegeben, um hier zu beginnen.»

«Heisst das, du wurdest gekündigt?»

«Haha, du bist ein skeptischer Kerl. Ja, sie haben mich rausgeschmissen, weil ich», er macht eine Pause, «ach, ich hab die falsche Person als Idioten beschimpft.»

Mir ist langweilig, also gehe ich zu Tarik zum Plaudern. Er ist einer der Nähmeister und der Herr des Radios. Nur er darf es ein- und ausschalten oder den Sender wechseln.

«Ist es hier besser oder in der Fabrik?»

«Im Grunde gleich. Dort hatten wir neuere Maschinen, aber hier sind die Menschen besser drauf.»

Damit meint er den Chef. Was hält er davon, Raubkopien zu nähen? Tarik versteht die Frage nicht.

«To je normalno sine», das ist normal, mein Sohn.

Unten im Keller arbeitet Fikret an einem neuen Modell. Ein paar Mal in der Woche bestellt ihn Denis zu sich und drückt ihm ein Paar Jeans in die Hand. Es sind Hosen, die er sich im Westen für gute 150 bis 200 Euro gekauft hat. Fikret erstellt dann Schablonen und schneidet die Einzelteile, die wir oben zusammenflicken. So einfach funktioniert das.

Einen Stadtplaner hat die Stadt nicht, und wenn, dann muss er eine entweder sehr betrunkene oder sehr korrupte Person sein.

Grosse Marken heuern manchmal Modestudenten oder junge Designer an, aber kleine Fische wie Denis können sich das nicht leisten. Mirsad, der Gürtelschlaufen-Experte und Meister des Kaffeekochens, bringt Tarik und mir Kaffee. Er versorgt uns alle mit dem schwarzen Trunk, den wir während der Arbeit, ohne Pause zu machen, trinken. Kaffee und Zigaretten sind die einzige Nahrung, die wir tagsüber zu uns nehmen. Wie in einem Jim-Jarmusch-Film. Das spart Kosten. Der Durchschnittslohn liegt zwischen 120 und 200 Euro pro Monat, und das in einer Stadt, in der alles fast gleich viel kostet wie in Wien.

Novi Pazar liegt in einem kleinen Tal, etwa 15 Kilometer von Kosovo und etwa 40 Kilometer von Montenegro entfernt. Von den etwa 120'000 Einwohnern sind drei Viertel Muslime. Das Stadtbild ist geprägt von Häusern, denen Fassaden fehlen. Die Röte der Lochziegel ziert die halbe Stadt. Moscheen gibt es alle paar hundert Meter, und auch an Kirchen herrscht kein Mangel.

Die Strassen sind zu eng, als dass man sie zweispurig benutzen könnte, und dennoch tut man das. Einen Stadtplaner hat die Stadt nicht, und wenn, dann muss er eine entweder sehr betrunkene oder sehr korrupte Person sein. Manche Häuser oder Lokale sind so nah an die Strasse gebaut, dass es für Fussgänger praktisch kein Durchkommen gibt, während nur wenige Meter weiter der Gehsteig breiter ausfällt als die Strasse. Parkplätze gibt es hier überall, und das nur, weil die Menschen einfach überall parkieren.

Fast noch unverschämter sind die Passanten, die mitten auf der Fahrspur gehen und den Autofahrer beschimpfen, wenn er die Hupe drückt.

Die Stadt hat eine lange Textil-Tradition, die bis in die Ära von Josip Broz Tito zurückreicht. In den 60er und 70er Jahren wurden mehrere Textilwerke eröffnet, darunter auch das berühmte Textilkombinat Raska, das in seiner Blütezeit 4000 Arbeiter beschäftigte. Novi Pazar entwickelte sich zu einem Textilzentrum, das etwa 60 Prozent der Bevölkerung beschäftigte, weshalb man die Stadt auch als das «Tal der Jeans» bezeichnet.

Als das Staatengebilde Jugoslawiens in den späten 80er Jahren zerfiel, traf es die Textilindustrie hart. Hunderte in Novi Pazar verloren ihren Job. 1992 brach der Krieg aus. Der Westen verhängte ein Embargo gegen die Regierung Slobodan Milosevics. Importe jeglicher Art wurden abrupt gestoppt. Doch die Menschen, die sich auch während des Krieges nach ein wenig Normalität sehnten, verlangten weiterhin nach Designer-Jeans. Jene mit Unternehmergeist schlossen sich mit arbeitslosen Profis zusammen und begannen, Raubkopien zu nähen. Einer dieser Unternehmer war Denis.

Er sitzt auf seinem schwarzen Chefsessel hinter seinem Cheftisch, gleich rechts neben dem Eingang. Denis hat einen Haarschnitt wie Cristiano Ronaldo und eine Figur wie der jetzige Diego Maradona. Er ist 1,85 Meter gross, und seine Finger gleichen Bratwürsten. Wenn er lacht, und das tut er oft, dann aus dem Bauch heraus. Sehr ansteckend.

Er sieht mich neben Tarik sitzen und Kaffee schlürfen. Er ruft mich zu sich. Ich solle doch nicht einfach rumsitzen, sondern arbeiten. Eine Ladung Jeans sei soeben aus der Färberei angekommen. Labels und Etiketten seien anzunähen.

Dann kam der Balkankrieg. Denis nutzte die Chance und begann, im grossen Stil Levi’s- und Diesel-Jeans zu fälschen.

«Wie viele?»

«20 Paar Damen- und 30 Paar Herrenjeans bekommen Designer-Etiketten. Der Rest kriegt die normalen.»

Ich musste schon einmal Labels international bekannter Marken nähen und fand mich selbst bald in einem moralischen Zwist. Als mir ein alter und sehr gut vernetzter Bekannter diesen Undercover-Job vermittelte, war mir klar, dass ich hier illegal arbeiten würde. Ich wusste jedoch nicht, dass ich Fälschungen nähen musste. Ich tat, was von mir verlangt wurde, und bat Denis nach der Arbeit, mit mir etwas essen zu gehen, um darüber zu reden. Das war am Samstag.

Bei einer leckeren Portion Cevapi im Sukro, dem berühmtesten Lokal der Stadt, begannen wir über Raubkopien zu reden.

«Man muss ein Magier sein, um in Novi Pazar legal von der Jeans-Produktion leben zu können.»

Magie aber beruht bekanntlich auf Tricks und optischen Täuschungen. Genau das tun auch die Jeans-Produzenten in Novi Pazar. Denis hat seine Manufaktur bereits 1989 gegründet. 22 Jahre alt war er damals. Er kaufte gebrauchte Nähmaschinen aus der Türkei, die er heute noch verwendet. Am Anfang hat er Dienstleistungen für bereits existierende Marken angeboten. Das war in der wirtschaftlich unstabilen Zeit, und das Geschäft lief nur mühsam.

Dann kam der Balkankrieg. Denis nutzte die Chance und begann, im grossen Stil Levi’s- und Diesel-Jeans zu fälschen.

«Die Alternative wäre, Bankrott anzumelden und mit einem hohen Schuldenberg zu leben.»

Ebenfalls aus der Türkei besorgte er sich Labels, Etiketten, Knöpfe und natürlich auch Jeans-Stoff. Mit seinem Team nähte er 3000, manchmal 4000 Stück pro Monat und verdiente sich damit gutes Geld. 1999 registrierte er dann seine eigene Modemarke, Denis Jeans, und begann, eigene Kollektionen zu nähen. Als Inspiration dienten nach wie vor beliebte Designer-­Jeans. So macht man das eben in Novi Pazar.

Fälschungen produzierte er eine Weile keine mehr. Bis 2010 konnte er gut damit auskommen. Er verkaufte seine Ware in Serbien, Bosnien und exportierte nach Slowenien.  Mit Beginn der Wirtschaftskrise, hörten die Exporte auf. Produzierte er zuvor bis zu 5000 Stück im Monat, so sind es nunmehr höchstens 1500.

«Der Gewinn liegt bei uns zwischen 50 Cents und einem Euro pro Jeans.»

Man muss nicht Wirtschaft studiert haben, um zu verstehen, dass dies kein profitables Geschäft ist. 2011 nahm er wieder Fälschungen in sein Repertoire auf. Er ist kein Magier. Er ist ein gewöhnlicher Unternehmer, der überleben möchte.

In der Ecke, links neben dem Ein- und Ausgang, steht eine sehr alte Nähmaschine, mit der ich die Labels annähe. Mit einem Pedal unter dem Tisch in der Grösse eines Notizblocks bediene ich die Maschine. Sie ist weiss, in der Mitte hat sich die Farbe jedoch vor lauter Benutzung abgetragen. Eine Markierung zeigt mir, wo das Label aus Leder hinkommt. Das muss ich am oberen und unteren Rand annähen. Die Etiketten kommen auf die innere Seite des Hosenbundes.

Beim ersten Mal lief das nicht so glatt. Ich hatte mich nicht an das Pedal gewöhnt, das man fast bis zum Boden drücken muss, bis es die Maschine endlich in Schwung bringt. Ich drückte immer zu fest und nähte an der Markierung vorbei. Das war am ersten Arbeitstag, als ich noch auf der Suche nach meiner Rolle in dem Laden war. Ein Kollege hatte mich beobachtet und näherte sich mir. Er hatte einen blauen Pullover und helle, sichtlich ausgetragene Jeans an. Altersfalten an der Stirn und saharabraune Flecken an den Zähnen. Raucher.

2011 nahm er wieder Fälschungen in sein Repertoire auf. Er ist kein Magier. Er ist ein gewöhnlicher Unternehmer, der überleben möchte.

Seine Augen sind eher klein und tief in den Augenhöhlen versteckt. Ich schätzte ihn auf 1,80 Meter und knapp 60 Kilo. In seiner Erscheinung und Gangart erinnerte er mich an den rosaroten Panther. Er stellte sich neben mich.

«Du bedienst die Maschine und nicht umgekehrt», sagte er mir mit einer sanften Stimme. Dann drehte er an einem Regler unter dem Tisch, der die Höchstgeschwindigkeit der Maschine einstellt. Er drehte ihn fast auf null zurück. Ich fühlte mich wie als Dreijähriger mit einem Helm und Knieschützern auf meinem ersten Fahrrad mit Stützrädern.

«Kemal», stellte sich der Panther vor, reichte mir seine Holzfällerhand und drückte fest zu. Dann machte er eine bissige Bemerkung über meine Unfähigkeit. Wir verstanden uns auf Anhieb. Kemal arbeitet schon seit seinem 14. Lebensjahr als Näher. Die Schule hat er geschmissen.

Das Annähen der Etiketten erledige ich jetzt mit einer grossen Erleichterung, denn es wird das letzte Mal sein, dass ich es tue. Ich habe ausnahmsweise keine Angst vor der Arbeitsinspektion, die jeden Augenblick unangekündigt anklopfen könnte. Wie am dritten Arbeitstag.

Es war irgendwie ein chaplinesker Augenblick, als Denis durch den Spion guckte, sah, um wen es sich handelte, und begann, wie wild, aber ohne Ton, zu gestikulieren, dass wir schleunigst den Raum durch den Hinterausgang verlassen sollten. Es war gleichzeitig auch eine sehr stressige Situation. Hätten sie einen von uns erwischt, so hätte diese Person mit einer Geldbusse von 1000 bis 2000 Euro rechnen müssen. Ein Jahresverdienst.

Es gibt keine Chance, den Inspektor rein argumentativ zu überzeugen, dass er allein gearbeitet hat. Immerhin war das Geräusch der Maschinen ohrenbetäubend.

Damit wäre die Sache aber nicht erledigt gewesen. Einige der Kollegen beziehen seit Jahren Arbeitslosengeld. Mit dem Monatslohn kommt man nicht über die Runden. Deshalb arbeiten sie schwarz und kassieren nebenbei Staatsgeld. Hätte man sie erwischt, müssten sie alle über die Jahre bezogenen Leistungen zurückzahlen. Nochmals mehrere tausend Euro. Denis, der die Menschen unangemeldet beschäftigt, müsste bis zu 10'000 Euro zahlen und davon ausgehen, dass ihm die Lizenz entzogen wird. Es sei denn, er zahlt eine angemessene Bestechung.

Fast zwei Dutzend Arbeitsschritte werden benötigt, um, je nach Jeans, 20 bis 30 oder, bei den modisch-­zerrissenen Jeans, bis zu 60 Elemente zusammenzunähen.
Bild: Muhamed Beganovic

Und bezahlt hat er bestimmt, denn es gibt keine Chance, den Inspektor rein argumentativ zu überzeugen, dass er allein gearbeitet hat. Immerhin war das Geräusch der Maschinen ohrenbetäubend. Ausserdem waren wir in unserer Panik nicht ganz leise, als wir die Sessel zur Seite schoben und durch die enge Tür stürmten. Und als ob das nicht Beweis genug gewesen wäre, hatten einige Kollegen Tassen mit frischem Kaffee auf dem Tisch stehen.

Kemal erzählte mir später, dass regelmässig Arbeitsinspektoren vorbeikommen. Manchmal, weil Nachbarn petzen oder die Konkurrenz, manchmal, weil die Stadtkasse beängstigend leer ist, und manchmal einfach, weil der Banksaldo des jeweiligen Inspektors immer weiter Richtung null tendiert. Und diesen Saldo müssen Firmeninhaber wie Denis auffüllen. Nein, er ist nicht nur Magier, sondern auch Philanthrop wider Willen.

Korruption war schon immer omnipräsent auf dem Balkan. Nicht einmal der strikte Tito konnte sie eliminieren. Doch ohne Korruption wäre diese Stadt vollkommen ruiniert. Die Arbeitslosenrate in Novi Pazar schwankt zwischen 45 und 55 Prozent. Vor allem die Jugend leidet darunter. Die einzigen zwei Geschäftsbereiche, die sich noch über Wasser halten können, sind Gastronomie und Textilindustrie.

Novi Pazar ist eine kleine Stadt, in der jeder jeden kennt. Würde man die weit verbreitete Bestechungspraxis wirklich ausmerzen wollen, müsste man alle verhaften, die illegal Personal einstellen oder Fälschungen produzieren. Das würde die Arbeitslosenrate gleich nochmals in die Höhe schiessen lassen. Es mag zynisch klingen, aber die hohe Korruption ist das Einzige, was diese Stadt ökonomisch am Leben hält. Vielleicht hätten Wirtschaftsexperten eine Lösung für das Problem, doch hier kennt sie keiner.

Die Etiketten und Labels sind fertig genäht, es wartet aber ein Berg Jeans, die gelocht werden müssen. Das allererste Paar, an dem ich ein Loch genäht habe, habe ich mit nach Hause genommen. Denis hatte kein Problem damit. Jeder Mitarbeiter nimmt sich ab und an Kleidungsstücke mit. Das spart ebenfalls Kosten.

Wir nähen hier nicht nur Hosen, sondern auch Jeans-Jacken, Jeans-Röcke und Jeans-Shorts. Sollte jemand jemals auf die Idee kommen, Bettbezüge aus Jeansmaterial herzustellen, so werden sie diese hier nähen, nur erfinden werden sie hier nichts. Novi Pazar hat sich auf Reproduktion spezialisiert, Innovation kennt man hier nicht.

Ich bin sehr froh, dass ich in Kürze nach Österreich zurückkehre. Die Willkür, der die Arbeiter hier ausgesetzt sind, zerrt an den Nerven. Das regelmässige Weglaufen vor Inspektionen, das Abschuften für mickriges Geld, die fehlende Kranken- oder Unfallversicherung oder die Tatsache, dass wir erst am Abend erfahren, ob es am nächsten Tag Arbeit für uns gibt – das sind Dinge, die kein Arbeiter erleben sollte.

Dazu kommt noch, dass Näher so austauschbar wie Batterien sind. Etwa 15'000 Näher arbeiten schätzungsweise in Novi Pazar, ein paar weitere tausend sehnen sich nach einem Job. Der kleinste Fehler kann einen schon den Job kosten, wie es der Fall bei Tarik war. Vor allem jetzt, in den Wintermonaten, gibt es immer weniger Arbeit.

«Spätestens Ende Oktober ist Schluss. Über den Winter nähen wir keine Jeans-­Textilien. Erst im Frühling geht es wieder los», erzählte mir Kemal bei einem Abendessen bei ihm zu Hause.

Er und seine Ehefrau Zehra, die mit uns arbeitet, wohnen im westlichen Teil der Stadt, nahe der Ausfahrt Richtung Montenegro. Das Mehrfamilienhaus steht am Ufer eines kleinen Flusses. Sie wohnen im zweiten Stock. Die Klinke der Eingangstür ist locker und bleibt einem in der Hand, wenn man zu fest daran zieht. Das Wohnzimmer mit integrierter Küche ist auch das Schlafzimmer der Eltern, die zwei Teenager-Töchter teilen sich ein kleines Zimmer. Rechts neben der Eingangstür steht ein kleiner Röhrenfernseher auf einem braunen Fernsehtisch. In der Mitte des Raumes stehen zwei karamellbraune Couches und zwischen ihnen ein schwarzer Kaffeetisch. WC und Badezimmer befinden sich draussen im Gang.

Es mag zynisch klingen, aber die hohe Korruption ist das Einzige, was diese Stadt ökonomisch am Leben hält.

An jenem Abend unterhielten wir uns über «the best and worst of the job», über die türkische Serie Das prächtige Jahrhundert, die gerade lief, aber auch über Fälschungen. Dann fragte ich Kemal, ob er moralische Bedenken habe, weil er Plagiate nähe. Er lachte nicht und schaute mich mit Lammaugen an. Dann blickte er zu seinen Kindern, die von der Handlung der TV-Serie in Bann gezogen waren, und erneut vielsagend zu mir. «Warst du schon in der Stadt spazieren?», wechselte er rasch das Thema.

Vorigen Sonntag musste ich erst um zwölf Uhr bei der Arbeit sein, also ging ich ein wenig durch die Stadt. Ich spazierte zur Ausfahrt nach Raska im östlichen Teil der Stadt. Von hier fährt man weiter nach Kosovo. Nach einer S-Kurve gelangte ich auf eine Erhebung, von der aus man eine Aussicht auf die ganze Stadt hat. Bis zur Stadtgrenze sind es etwa zwei Kilometer. Die Strasse ist voller Schlaglöcher, und der Gehsteig ist derart abgenutzt, dass die Bezeichnung «marode» zu harmlos wäre.

Eine Boutique neben der anderen, standen sie aneinandergereiht wie die Perlen einer Kette. Conto Bene, Nesal, Maxers, Bros Jeans und drei Dutzend weitere. Die Champs-Elysées der Jeans. Natürlich gab es auch eine kleine Boutique für Denis Jeans, die ich aus Neugier betrat. Eine Gruppe junger Mädchen suchte gerade die perfekt sitzende Jeans. 15 Euro kostete die billigste, 20 die teuerste. Es waren aber nicht die Modelle, die wir in der Werkstatt nähen, sondern jene aus dem Vorjahr. Die frische Ware landet in Shops in Belgrad, Novi Sad, Sarajevo, auf den grossen Märkten.

Denis hat immerhin zwischen 300 und 400 Euro in ein neues Modell investiert und hat kein Interesse daran, die Ware in Novi Pazar zu verkaufen, wo ein Konkurrent die Jeans für 20 Euro kaufen und kopieren kann. Der Kopierer hat Angst, kopiert zu werden.

Ich zog weiter zum Markt. Natürlich gab es Obst und Gemüse. Hauptsächlich waren aber Fälschungen von Blusen, Trainingsanzügen, Schuhen, Hemden, Kleidern und Handtaschen im Angebot. Das Geschäft lief miserabel, so gut wie keine Kunden.

Die frische Ware landet in Shops in Belgrad, Novi Sad, Sarajevo, auf den grossen Märkten.

Einen Katzensprung vom Markt entfernt liegt das Zentrum, wo Jonuz die zweitbesten Cevapi der Stadt verkauft. Gleich vor dem Lokal steht ein Replikat des Sebilj, des öffentlichen Brunnens aus braunem Holz, den man als Wahrzeichen Sarajevos kennt. Natürlich ist das keine illegale Raubkopie, sondern ein öffentliches Geschenk, aber es steht irgendwie symbolisch für die Reproduktionsstadt. Wenn man von hier auf die Strasse des 28. Novembers spaziert, findet man in einer Nebengasse die Universität. Gegenüber der Uni befindet sich ein Copyshop. Hier kann man A4-Abdrucke der Bücher kaufen, die für die Uni relevant sind. Kopierte CDs und DVDs findet man sowieso an jeder Ecke.

Tariks Worte ergeben Sinn, nicht wahr?

Es ist erstaunlich, wie schnell wir alle arbeiten können, wenn wir früher nach Hause wollen. Wir werden ohnehin nicht pro Stunde, sondern pro genähtes Element (für Hilfsarbeiter wie mich) oder pro Jeans (für Nähmeister wie Kemal) bezahlt. Meine Entlöhnung liegt bei 5 Eurocent pro Loch. In den zehn Tagen hier habe ich 639 Löcher genäht. Dazu kommen noch 424 Labels und Etiketten zu je 3 Cent. Denis hat mitgezählt. Das ergibt einen Lohn von 44 Euro 67.

Das Geld werde ich nicht einfordern. Eine Spende für den Philanthropen. Kemal und ich laden sorgfältig 270 Stück vorsortierte und einzeln in Plastik verpackte Hosen der Marke Denis Jeans in einen Kleintransporter.

Mein Kopf brummt und fühlt sich an, als sei er so aufgebläht wie ein Kugelfisch und so schwer wie Blei. Meine Ohren summen noch heftiger als sonst. Mein Steissbein brennt. Ich habe Hunger. Ich brauche eine Dusche. Meine Arme vibrieren noch heftig von der Maschine. Mein Rücken ist so krumm wie eine saure Gurke. Ich höre jeden Wirbel knacken, wenn ich mich aufrichte. Meine Hände sind blau wie die von Papa Schlumpf.

Das sind normale Begleiterscheinungen des Jobs. Erst nach einem Monat, meinte Kemal, würde sich der Körper daran gewöhnen. Das Wort Berufskrankheit ist hier offenbar unbekannt.

Kemal und ich warten im Kleintransporter an der Grenze zu Montenegro. Die Sonne sinkt am Horizont und kreiert eine Szenerie wie auf Edvard Munchs ikonischem Gemälde Der Schrei. Vor uns stehen zwei Autos. Wir haben weder unsere Ausweise noch einen Frachtbrief dabei. Der Grenzpolizist winkt uns zu sich.

Kemal raucht eine Zigarette und sieht dabei so gelassen aus, als warte er an der Kasse eines Supermarktes. Ich versuche, aus seiner Coolness ein wenig Beruhigung zu schöpfen.

«Reisepässe bitte!», sagt der Hüne von einem Grenzpolizisten mit einem kommandierenden, aber gelangweilten Ton. Er kommt nicht aggressiv rüber, doch seine breiten Schultern vermitteln einen einschüchternden Eindruck.

«Ma puši mi kurac čoveče!», blas mir doch einen, sagt Kemal gleichgültig.

Der Grenzpolizist runzelt die Stirn. «Warum machst du dich so wichtig, Adnan?», fragt Kemal dann mit einem Lächeln von Ohr zu Ohr.

«Ich mache meinen Job, du Idiot!»

«Blas mir doch einen», sagt Kemal gleichgültig zum Grenzpolizisten.

Die beiden beginnen über das Fussballspiel von vorgestern zu reden. FK Novi Pazar gegen FK Jagodina. Novi Pazar hat mit drei Toren gewonnen, doch das war Nebensache.

«Hast du gesehen, wie gut die neuen Flutlichter das Spielfeld beleuchten?», fragt der Hüne.

Kemal ist nicht überaus begeistert. «1928 wurde der Fussballklub gegründet. Das Stadion gibt es fast genauso lange. Heuer wurden zum ersten Mal Flutlichter installiert. Das ist irgendwie traurig.»

Prognosen für die weiteren Spiele des Teams werden besprochen. Keine Autos hinter uns, also lassen sie sich Zeit.

«Was hast du im Kofferraum?»

«Nur Kleider. Wir gehen kurz ans Meer.»

«Schmuggelst du?», fragt der Grenzpolizist, und ich habe das Gefühl, dass er es nicht ernst meint.

Ich hatte zuerst richtig Angst, doch jetzt bin ich entspannt und irgendwie vom Gespräch amüsiert. Kemal lacht.

«Das geht dich doch nichts an.»

«Was hast du im Kofferraum?» «Nur Kleider. Wir gehen kurz ans Meer.»

Wir dürfen weiterfahren. «Weiss er eigentlich, was wir hier machen?», will ich von meinem Kollegen wissen.

«Weisst du, was wir hier machen?»

«Ja, Denis hat mir schon erklärt, wie der Verkauf von Fälschungen in Montenegro funktioniert.»

Sollte jemand jemals auf die Idee kommen, Bettbezüge aus Jeansmaterial herzustellen, so werden sie diese hier nähen, nur erfinden werden sie hier nichts.
Bild: Muhamed Beganovic

«Na also. Wenn ein Nichtsnutz wie du davon weiss, glaubst du, dass der Typ da nichts davon mitbekommen hat?»

Touché! Ich schweige. «Adnan ist ein Cousin von Denis. Er lebt gleich hinter der Grenze.»

Wir fahren durch eine bergige Landschaft. Die Sonne ist untergegangen. Es fehlen Strassenbeleuchtungen. Apfelgrosse Steine, die von den Felsen heruntergerollt sind, liegen auf der Autobahn verstreut. Kemal manövriert wie ein Stuntfahrer. Nach drei Stunden erreichen wir Podgorica.

Podgorica ist überraschend klein. In einer winzigen, schuppenartigen Werkstatt im Garten eines Wohnhauses mit einer hässlichen rosa Fassade laden wir die Ware aus. Ein Mann um die 40, der sich als Safet vorstellt, hat uns erwartet. Er hat eine Glatze, ein paar Kilo Übergewicht und erinnert ein wenig an den Sänger Bono ohne Sonnenbrille.

Ist es nicht lustig, dass der einzige Unterschied zwischen einem Plagiat und einem Falsifikat ein Stück Leder ist?

Sein Job ist es, alle Etiketten und Labels zu entfernen und sie durch Designer-Labels zu ersetzen. So werden aus Denis Jeans namhafte Marken wie Diesel, Replay, Tommy Hilfiger usw., die an nichtsahnende Touristen verkauft werden.

Ist es nicht lustig, dass der einzige Unterschied zwischen einem Plagiat und einem Falsifikat ein Stück Leder ist? Diesen Trick wendet Denis für seine Exporte nach Kosovo und Montenegro an. Die 20 Paar Damen- und 30 Paar Herrenjeans, denen ich Designer-Labels angenäht habe, sind für Slowenien gedacht. Richtige Schmuggler, die wahrscheinlich keine Gewissensbisse haben wie ich, transportieren sie.

Die Logik hier ist simpel. Denis müsste jemanden in Slowenien anheuern, der – wie Safet – die ursprünglichen Labels entfernt und durch neue ersetzt. Das wäre teurer, als Schmuggler zu bezahlen. Von Slowenien aus landet die Ware in Westeuropa. Denis schwor kürzlich beim Leben seiner Mutter, dass er 2012 in einem Einkaufszentrum in Zürich seine Fälschungen entdeckt habe. Er habe sie an den Knöpfen und dem Nähgarn – er verwendet primär gelbes Nähgarn für Schuhe, da es fester ist – erkannt.

Ich halte das für eine schöngefärbte Wahrheit. Eher halte ich es für wahrscheinlich, dass über Ebay und Amazon gefälschte Ware an Internet-Konsumenten als Originale verkauft wird.

Ich möchte Textil-Piraterie nicht gutheissen oder verharmlosen. Natürlich verursachen Novi Pazars Produzenten einen Schaden, dessen Höhe noch nie beziffert wurde.

Es kommt kein Aber. Ich möchte nur sagen, dass ich die Menschen verstehe. In dem Copyshop sprach ich einen Studenten an, der sich gerade eine Kopie des Buches «Einführung in das gegenwärtige Recht» kaufte.

Denis schwor kürzlich beim Leben seiner Mutter, dass er 2012 in einem Einkaufszentrum in Zürich seine Fälschungen entdeckt habe.

«Für eine Prüfung brauche ich drei Bücher, die im Buchladen zwischen 35 und 40 Euro pro Stück kosten. Das kann ich mir nicht leisten. Hier krieg ich Kopien der drei Bücher für knapp 20 Euro. Das passt eher in mein Budget.»

Würde er aber zur legalen Kopie greifen, wenn er genügend Geld hätte? «Na klar. Was wäre ich für ein Rechtsstudent wenn ich bereitwillig das Gesetz bräche?», fragte er mit einem traurigen Lächeln.

Aus dem gleichen Grund macht auch die restliche Bevölkerung ähnliche, nennen wir sie mal Kompromisse.

Kemal und ich kehren gleich wieder um. Gegen vier Uhr in der Früh sind wir wieder in Novi Pazar. Um sechs Uhr fährt mein Bus nach Wien. Mit dem Koffer in der Hand gehe ich zu Fuss zum Bahnhof. Vor Tagen hat es geregnet, und trotzdem sind die Strassen vor lauter Schlaglöchern immer noch voller Pfützen, denn Novi Pazars Abwassersystem funktioniert wieder einmal nicht. Es ist kurz nach fünf Uhr, und bereits sind ein paar Cevapi-Lokale geöffnet. Schläft denn diese Stadt nie?

Der Weg zum Bahnhof gleicht einem Spaziergang durch ein riesiges Einkaufszentrum. Cafés, Fast-Food-Lokale und Kleidergeschäfte gibt es an jeder Ecke. Auch sie verkaufen mit höchster Wahrscheinlichkeit Plagiate namhafter Marken. Am Hauptplatz, neben dem Faux-Sebilj, gegenüber von Jonuz’ Grill-Restaurant, befindet sich das Gerichtsgebäude. Seine Büros haben einen Panoramablick auf die Stadt, doch die Jalousien sind immer geschlossen.

Das ist auch als Metapher zu verstehen. Ich schleppe meinen Koffer weiter zum Bahnhof und gehe an ausländischen Banken, zwei Apotheken, mehreren hippen Lokalen und der ältesten Moschee des Balkans vorbei. Allein diese Mischung macht die Stadt einzigartig. Als ich den Bahnhof endlich erreiche, ist die Unterseite meines Koffers ziemlich durchnässt. Ich steige in den Bus, der mindestens so alt ist wie ich. Marke: Setra.

Ein Original!

Zu dieser Reportage
Der Text stammt aus dem Heft Reportagen #22.
Es ist die erste Reportage des in Wien lebenden Journalisten Muhamed Beganovic (Jahrgang 1988). Den Auftrag erhielt er vom Magazin «Reportagen» im Rahmen des Förderstipendiums für junge Autorinnen und Autoren, welches dank ihm ins Leben gerufen wurde, und das deshalb seinen Namen trägt. Auch die Bilder stammen von Beganovic aus seiner Zeit in der Fälscher-Fabrik.
Die Fotos hat Muhamed Beganovic ebenfalls undercover aufgenommen und watson exklusiv zur Verfügung gestellt.

Mit einer Undercover-Reportage konnte «Reportagen» bereits einmal aufwarten: In Ich bin ein Precario (#12) hat sich José López Menacho als Schokoriegel verkleidet, um über die spanische Arbeitslosigkeit zu schreiben.
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6 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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panaap
27.12.2015 22:51registriert Mai 2015
Super Geschichte!
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mahahabara
28.12.2015 01:28registriert September 2015
Eindrücklich geschildert! 👍
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Crecas
28.12.2015 00:22registriert Februar 2014
Danke für den Artikel!
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