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«Herr Vontobel, warum gibt es Jobs, die es gar nicht braucht?»

Buchautor und Journalist Werner Vontobel.
Buchautor und Journalist Werner Vontobel.Bild: watson

«Herr Vontobel, warum gibt es Jobs, die es gar nicht braucht?»

Buchautor und Journalist Werner Vontobel kritisiert die Lohnpolitik von Zalando scharf. Das deutsche Unternehmen schaffe Wegwerfjobs für Wegwerfmenschen.
15.05.2014, 11:3821.04.2016, 10:22
sven zaugg
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Herr Vontobel, in Ihrem neuen Buch, das Sie zusammen mit watson-Autor Philipp Löpfe verfasst haben, widmen Sie ein ganzes Kapitel dem Online-Modehaus Zalando. Es sei ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Arbeitskraft verschwendet wird. Warum diese harsche Kritik?
Werner Vontobel: Zalando schafft Wegwerfjobs für Wegwerfmenschen. Das Unternehmen zahlt den Lagerarbeitern in Erfurt und anderswo 8,79 Euro pro Stunde, bietet ihnen einen auf zwölf Monate befristeten Arbeitsvertrag und unterstellt sie nicht den Tarifverträgen. Das ist moderne Sklavenarbeit. So wird der Mensch zur Maschine.

«Wo bitte schön ist der volkswirtschaftliche Nutzen, wenn ein Angestellter 8,79 Euro pro Stunde verdient?»

Sie vergessen: Das Berliner Unternehmen hat binnen zwei Jahren 2000 Arbeitsplätze in der strukturschwachen Region Erfurt geschaffen. 
Wo bitte schön ist der volkswirtschaftliche Nutzen, wenn ein Angestellter 8,79 Euro pro Stunde verdient? Selbst in Deutschland, wo die Lebenshaltungskosten tief sind, kann jemand mit einem solch niedrigen Gehalt kaum ein anständiges Leben führen. Es ist eben nicht so, wie der letzte sozialdemokratische Kanzler, Gerhard Schröder, gesagt hat: «Sozial ist, was Arbeit schafft.» Über diese soziale Tat hinaus sollten Arbeitnehmer auch anständig entlohnt werden.

Niedriglohnsektor in Deutschland

Im Jahr 2012 verdienten nach Berechnungen der Hans-Böckler-Stifung 24,3 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns, also unter 9,30 Euro. Seit 1995  ...
Im Jahr 2012 verdienten nach Berechnungen der Hans-Böckler-Stifung 24,3 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns, also unter 9,30 Euro. Seit 1995 hat sich die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten damit von 5,9 auf 8,4 Millionen erhöht. Insbesondere in Westdeutschland ist der Niedriglohnsektor in diesem Zeitraum erheblich gewachsen – um 61,4 Prozent. Im Osten betrug der Zuwachs 8,2 Prozent, allerdings ausgehend von einem höheren Niveau. Bild: Böckler Impuls 05/2014

Erfurt wird sicher etwas überlegt haben bei der Ansiedlung des Berliner Unternehmens. Die Region ist auch auf solche Jobs angewiesen.
Das bleibt mir ein Rätsel. Wer so wenig verdient, hat nichts, womit er das einheimische Gewerbe beleben könnte, und zahlt bei Weitem nicht genügend Steuern, um die Kosten für die Beanspruchung der Infrastruktur zu decken. Unter dem Strich sind die Zalando-Jobs für Erfurt ein Verlustgeschäft.

Wie hoch müsste ein anständiger Lohn ausfallen?
Ich halte 16 Euro pro Stunde für angebracht. Deutschland dehnt mit Unternehmen wie Zalando den Niedriglohnsektor aus. 2011 arbeiteten 8,1 Prozent Deutsche für weniger als 9,14 Euro pro Stunde. Im Schnitt lag der Stundenlohn im Niedriglohnsektor bei 6,4 Euro. Billig-Jobs haben keinen volkswirtschaftlichen Nutzen. 

Mit anderen Worten: Es braucht diese Jobs nicht. Warum?
Für solche Löhne wird im Wesentlichen nur Arbeit geschaffen, die keiner wirklich braucht, sonst müsste man sie anständig bezahlen. Oder es handelt sich um Arbeit für Leute, die sich nichts leisten können. Die Formulierung ‹Wegwerfjobs für Wegwerfmenschen› ist nicht nur polemisch, sondern durchaus real. Deutsche Männer haben im Niedriglohnsektor eine elf Jahre kürzere Lebenserwartung als Männer im oberen Viertel der Einkommenspyramide. Bei Frauen beträgt die Differenz 8,4 Jahre.  

«Mit einem niedrigen Stundenlohn und Schichtbetrieb ist es sehr schwierig, geordnete soziale Beziehungen zu pflegen.»

Was sind die Gründe? 
Ein Grund dafür liegt in der Ernährung. Jeder vierte Niedriglöhner kann sich nicht einmal jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit leisten. Stress und eine hohe Arbeitsbelastung kommen dazu. Jeder sechste Niedriglöhner kann seine Wohnung im Winter nicht warmhalten. 37 Prozent der 45- bis 64-jährigen Niedriglöhner schätzen ihren Gesundheitszustand als schlecht ein. Das führt zwangsläufig zu einer sozialen Katastrophe. Die Folgen trägt der Staat – in seinen Schulen, Sozialämtern und Gefängnissen.

Welche Folgen? 
Mit einem niedrigen Stundenlohn und Schichtbetrieb ist es sehr schwierig, geordnete soziale Beziehungen zu pflegen. Etwa zu einem Ehepartner. Kinder kann man sich unter diesen Umständen eigentlich nicht leisten. Wenn doch, führt das oft erst zur körperlichen und seelischen Überforderung und dann zur sozialen Katastrophe. 

Sind schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne die Konsequenz einer globalisierten Wirtschaft?
Ja. Sie sind die Folge einer schlechten Wirtschaftspolitik. Dabei muss man sehen, dass es für ein einzelnes Land oder eine Stadt nicht einfach ist, die richtige Antwort auf den globalen Standortwettbewerb zu finden. Doch das Buhlen um Zalando-Jobs ist eine grobe Fehlleistung.

Inwiefern?
Die Deutschen geben deshalb nicht mehr Geld aus. 
Im Gegenteil: Der Versandhandel bedroht die viel personalintensiveren städtischen Einkaufszentren. Zudem geht ein Stück Lebensqualität verloren.

Zur Person
Werner Vontobel gehört zu den profiliertesten Globalisierungskritikern der Schweiz. Seit 1995 schreibt er dazu wöchentlich Analysen und Kolumnen in den Medien des Ringier-Verlags, aber auch Bücher und wissenschaftliche Aufsätze. 2013 wurde er mit dem Greulich-Preis ausgezeichnet. Er studierte Volkswirtschaft in Basel, arbeitete u.a. als Korrespondent des «Tages-Anzeigers» in Bonn und war Mitglied der Chefredaktion des Wirtschaftsmagazins «Cash». (sza)
«Es wäre schön, wenn der Konsument das Problem der tiefen Löhne im Alleingang lösen könnte, doch es braucht auch Mindestlöhne.»

In der Schweiz stimmen wir am 18. Mai über den Mindestlohn ab. Ist es nicht paradox, dass ein Teil der Schweizer Gesellschaft einen Mindestlohn will, aber gleichzeitig bei Zalando bestellt und dadurch den Niedriglohnsektor zementiert?
Ja, das ist paradox, aber der Konsument kann nicht bei jedem Produkt die Arbeitsbedingungen kennen. Es wäre schön, wenn der Konsument das Problem der tiefen Löhne im Alleingang lösen könnte, doch es braucht auch Mindestlöhne.

«Unsere Ingenieure können stolz sein auf ihre Leistungen, doch in der Wirtschaftspolitik sind immer noch Stümper am Werk.»
Bild
Bild: books.ch

Und dennoch geht es der Weltbevölkerung noch nie so gut wie heute. Zeichnen Sie nicht ein allzu düsteres Bild der globalen Wirtschaft? 
Global und ganz allgemein gesagt, ist das wohl nicht falsch. Doch damit darf man sich nicht zufrieden geben. Wir haben heute einen sehr hohen technologischen Standard. Theoretisch müssten wir dank der Globalisierung überall in der Welt auf diesem Niveau produzieren und ein sehr angenehmes und sicheres Leben führen können. Doch bisher haben nur sehr wenige Länder diesen Standard wenigstens annähernd erreichen können. Und auch diese schaffen es immer weniger, ihren Wohlstand einigermassen gerecht zu verteilen. Kurz: Unsere Ingenieure können stolz sein auf ihre Leistungen, doch in der Wirtschaftspolitik sind immer noch Stümper am Werk. 

«Wirtschaft boomt – Gesellschaft kaputt»
Finanzkrise, Wachstumskrise, Eurokrise, Staatskrise – der Krisen ist kein Ende und das weltweit. «Und doch propagieren viele Politiker und Ökonomen unverdrossen das Modell einer globalisierten Wirtschaft, obgleich dieses System so deutlich wie nie zuvor mehr Verlierer als Gewinner produziert», kritisieren die Buchautoren Werner Vontobel und Philipp Löpfe. Das Buch soll als Abrechnung mit einem Wirtschaftssystem verstanden werden, das das wichtigste Kapital der Menschheit beschädigt: Gemäss Auffassung der Autoren ist das die Fähigkeit, die Gesellschaft so zu organisieren, dass möglichst viele gut in ihr leben können. (sza)

Welche Form der Arbeit müsste stattdessen geschaffen werden? Welche Arbeit bringt der Gesellschaft einen volkswirtschaftlichen Nutzen?
Sehen Sie sich deutsche Städte wie Erfurt an: Abgewohnte Häuser, verlotterte Strassen, stillgelegte Schwimmbäder und Museen und eine Unterschicht von rund einem Viertel der Einwohner, denen es – zumindest nach mittelständischen Massstäben – an allen Ecken und Enden fehlt. Da liegen abertausende von potentiellen Stellen brach. Vor diesem Hintergrund, den jeder sehen kann, ist es doch absolut lächerlich, Pakete hin- und her zu transportieren und ein- und auszupacken. 

Kritisiert wird Zalando auch für die Fördergelder, die es beispielsweise vom Freistaat Thüringen erhalten hat, um das Logistikzentrum in Erfurt zu bauen. 
Das ist in der Tat absurd. Thüringen hat nicht weniger als 22,5 Millionen Euro für Zalando locker gemacht. Ich gehe davon aus, dass dies vermutlich einen grossen Teil der Investitionen deckt.

Das Lager hat gemäss Zalando 170 Millionen Euro gekostet. Da reichen 22,5 Millionen bei Weitem nicht, um die Investitionen zu decken. 
Erstens dürften 170 Millionen für eine simple Lagerhalle weit übertrieben sein. Zweitens wurde der Bau nach meinen Informationen von einem auswärtigen Bauunternehmer aufgestellt, also hat Zalando auch da keine Jobs gebracht. Drittens kommen zu den 22,5 Millionen Bauzuschuss für Erfurt noch beträchtliche, aber nie bezifferte Ausgaben für die Infrastruktur hinzu. Viertens macht es stutzig, dass Zalando bewusst auf manuelle Abwicklung – sprich auf billige Arbeitskräfte – setzt und die 
Investitionen auf ein Minimum beschränkt hat. Damit hält sich Zalando die Möglichkeit offen, ohne finanziellen Schaden wieder aus Erfurt abziehen zu können.

Was ist so falsch daran, Unternehmen mit Fördergeldern zu locken? 
Falsch ist, dass sich Erfurt so billig verkauft. Für gute, solide Jobs kann man schon mal ein wenig Staatsgeld ausgeben.

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