Wirtschaft
Schweiz

70-Prozent-Jobs werden normal – Rentensystem muss sich anpassen

Weil der 70-Prozent-Job zur Normalität wird: Bitte einmal das Schweizer Rentensystem anpassen!

Der typische Schweizer Arbeitnehmer arbeitet im Schnitt noch 70 Prozent. Die AHV und die 2. Säule sollten sich auf diese neue Realität einstellen – sonst bröckelt mit dem Versicherungsschutz auch die Stabilität der Wirtschaft und Gesellschaft.
22.06.2016, 12:5322.06.2016, 13:07
werner vontobel
Mehr «Wirtschaft»

Genügen die Altersleistungen der AHV und der 2. Säule auch in Zukunft zur Sicherung des Existenzminimums? Um dies abzuklären hat die Schweizerische Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten eine Studie in Auftrag gegeben. Diese beziffert das Existenzminimum mit monatlich 3135 Franken für eine alleinstehende Person und mit 4517 Franken im Monat für ein Paar.

Die Antwort: Ja, es reicht auch bei einem niedrigen Lohn und mit einer Pensionskasse, die sich auf das BVG-Minimum beschränkt. Voraussetzung ist allerdings eine Vollzeitstelle.

Das klingt nur scheinbar beruhigend, denn – auch das zeigt die Studie – eine Vollzeitstelle ist längst nicht mehr die Norm, vor allem bei Frauen.

Im Schnitt zu rund 70 Prozent beschäftigt

Im Zeitpunkt der Studienerhebung haben 13 Prozent der Männer und 24,2 Prozent der Frauen im Alter von 20 bis 65 Jahren aus irgend einem Grund (Gesundheit, Familie, Arbeitslosigkeit) überhaupt nicht gearbeitet. Bei weiteren 47 Prozent der Frauen und 13 Prozent der Männer lag der Beschäftigungsgrad zwischen 0 und 90 Prozent. Im Schnitt ist der Schweizer Arbeitnehmer im Verlaufe des Arbeitsleben also zu rund 70 Prozent beschäftigt.

Beschäftigungsgrad 1991 und 2015 im Vergleich

Bild

Das wirkt sich aus: In der 2. Säule reduziert ein 70-Prozent-Pensum wegen den rund 25'000 Franken Koordinationsabzug (siehe Box) die erwartete Rente um etwa 50 Prozent. In der AHV erreicht man die Maximalrente von 2350 Franken monatlich nur, wenn man monatlich 7000 Franken verdient. Mit einem 70-Prozent-Pensum schaffen das jedoch nur wenige.

Was ist Koordinationsabzug?
Der Jahreslohn eines in der 2.Säule Versicherten wird nicht komplett brutto, sondern zu einem tieferen Satz versichert. Der sogenannte Koordinationsabzug dient dazu, dass der Lohnanteil, der bereits in der AHV versichert ist, nicht auch nochmals in der Pensionskasse versichert wird.
Der Koordinationsabzug beträgt 7/8 der einfachen maximalen AHV-Rente. 
Versichert ist in der PK also nur der Lohnanteil der über der Summe des Koordinationsabzugs liegt. Daraus ergibt sich der Lohnanteil, der für die Pensionskassenleistungen bestimmend ist. Zurzeit beträgt er 24‘675 Fr.

Beispiel: Bei einem Jahreseinkommen von 80’000 Fr. beträgt der bei der Pensionskasse versicherte Lohn 55’325 Fr. (80’000 abzüglich 24’675). PK-Beiträge und alle Renten richten sich dann am versicherten Lohn von 55’325 Fr. aus. (egg)

Die Studie konstatiert deshalb zu Recht: «Die Simulation zeigt, dass das System der Altersvorsorge in der Schweiz nichts verzeiht.»

Zwei unwahrscheinliche Bedingungen

Kommt dazu, dass die erwähnten Existenzminima von 3135 bzw. 4517 Franken nur ausreichen, wenn zwei zunehmend unwahrscheinliche Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind:

  1. Die Rentner müssen rüstig sein. Ein Alters- geschweige denn Pflegeheim liegt nicht drin.
  2. Sie müssen sie von den ortsüblich übersetzten Mieten verschont bleiben. Die zurzeit billigste 2.5-Zimmer-Wohnung in Zürich kostet 1700 Franken, 2500 Franken gelten immer noch als Schnäppchen.

Fazit: Hagelversicherung für Schönwetter

Was schlägt die Studie vor? Nichts. Zumindest nichts politisch Unkorrektes sondern etwa dies: Die Frauen müssen bitte dafür sorgen, dass ihr Arbeitspensum möglichst nicht unter 70 Prozent fällt. Zu diesem Zweck sollten mehr erschwingliche Krippenplätze und steuerliche Abzüge für externe Kinderbetreuung geschaffen werden.

Und besonders hilfreich: Die Pensionskassen und die AHV sollen «ein Dokument erarbeiten, das jährlich zusammenfassend und auf verständliche Weise die Altersvorsorgeleistungen aus der 1. und 2. Säule darstellt.»

Im Klartext: Sagt den Leuten rechtzeitig und offen, wie wenig sie zu erwarten haben. Das ist zynisch. Fakt ist, dass wir ein Vorsorgesystem haben, das nicht mehr in die heutige Zeit passt. Sei ist wie eine Hagelversicherung für Schönwetterlagen. Seit den frühen 80er Jahren, als die 2. Säule ausbaldowert und damit das aktuelle Rentensystem begründet wurde, ist die Produktivität um 35 Prozent gestiegen und die Erwerbsquote der Frauen hat sich von 34 auf 55 Prozent erhöht.

Vollzeit-Jobs sind eine Illusion

Unter diesen Umständen sind Vollzeitjobs für alle eine Illusion. So viel Produktion hält weder unsere Konsumlust noch die Umwelt aus und eine weitere massive Steigerung unserer eh schon lächerlich hohen Exportüberschüsse liegt auch nicht drin. Nein, ein 70-Prozent-Pensum ist die neue Norm und das Altersvorsorgesystem sollte sich danach richten.

Es muss so konzipiert werden, dass man mit einem normalen Pensum (von aktuell 70 und bald schon noch weniger Prozent) und mit einem normalen Lohn eine existenzsichernde Rente generieren kann.

Und wie soll man das finanzieren?

Auf die Frage der Finanzierung gibt es zwei Antworten: 

  1. Wir können es uns gar nicht leisten, dies nicht zu finanzieren. Die Wirtschaft ist auf den Konsum der Rentner dringend angewiesen. Erstens konsumiert die Schweiz gemessen an der Produktionskraft ohnehin gut 10 Prozent zu wenig und die Rentner verbrauchen pro Kopf eh schon 10 Prozent weniger als die Aktiven. Wenn sie um ihre Rente fürchten müssen, schmilzt ihre Konsumlust wie das Gletschereis in der Sommerhitze.
  2. Wir finanzieren die Altersvorsorge indem wir sie als Risikoversicherung organisieren – analog zur Krankenversicherung. Versichert wird das Risiko, weniger als ein durchschnittliches Pensum (heute etwa 70 Prozent) arbeiten zu können. Wer das Glück hat, mehr Arbeit zu ergattern, zahlt mehr. Konkret: Die Lohnprozente werden auf dem vollen Lohn erhoben, versichert ist jedoch nur der Lohn eines 70-Prozent-Pensums. Bei der Krankenversicherung läuft es gleich: Wer das Glück hat, gesund zu bleiben, zahlt (gerne) zu viel und kommt nicht auf die Idee, seine ungenutzten Prämien zurück zu fordern.

Besser arbeiten

Alle Storys anzeigen

Posen in riesigen Bäumen: Das gefährliche Holzfäller-Dasein

1 / 16
Posen in riesigen Bäumen: Das gefährliche Holzfäller-Dasein
Im pazifischen Nordwesten und in Kalifornien wachsen gigantische Bäume. Zum Beispiel der Riesenmammutbaum, der eine Höhe von bis zu 95 Metern und einen Stammdurchmesser von bis zu 17 Metern erreichen kann. Diese Kolosse wachsen da schon seit hunderten von Jahren. Bis um 1800 der Holzhandel begann. bild: ericson collection
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!

  • watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
  • Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
  • Blick: 3 von 5 Sternchen
  • 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen

Du willst nur das Beste? Voilà:

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
8 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
8
«Ohne Disziplin passieren Unfälle»: Nach tödlichem Unfall fordert Experte Veränderungen
Wie konnte es passieren, dass sich in einem Fahrzeug der Schweizer Armee eine geladene Waffe befand, aus der sich ein Schuss löste? Nach dem schrecklichen Unfall in Bremgarten ordnen Experten ein.

Nachdem am Dienstag in Bremgarten ein Rekrut durch einen Schuss aus einem Sturmgewehr gestorben ist, fragen sich viele, wie eine geladene Waffe in ein Militärfahrzeug gelangen konnte. Denn es gibt im Schweizer Militär genaue Vorschriften und Regelungen, wie mit einer Waffe umgegangen werden muss. Diese haben zum Ziel, einen Vorfall, wie er in Bremgarten passiert ist, zu verhindern – doch offenbar haben diese Sicherheitsmechanismen nicht restlos funktioniert.

Zur Story