Wirtschaft
Schweiz

Mindestlohn in der Schweiz: 35 Franken müssten es schon sein

Wie hoch müsste der Schweizer Mindestlohn sein? Wir haben gerechnet – und kommen auf 35 Franken

Unsere Wirtschaft lebt vom Luxus. Das müsste auch bei der Festsetzung eines Mindestlohns beachtet werden. Wir haben eine Rechnung angestellt – und herausgefunden, wie hoch der Mindestlohn sein sollte.
19.04.2016, 11:34
werner vontobel
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Wir haben uns daran gewöhnt, doch aus historischer und globaler Sicht ist die Schweiz eine permanente Konsumorgie: Zwei Fernseher, ein Tiefkühler und 1,2 Autos in jedem Haushalt, eine Apotheke an jeder Ecke, zwei Fitnesszentren und ein Fitnessstudio in jedem Quartier, Schönheitschirurgie an jedem fünften Körper oder Gesicht.

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Dabei arbeiten wir nur gut halb so viel wie vor 100 Jahren und unsere bestbezahlten Berufsleute schaffen nicht neue Werte, sondern verbringen ihre Zeit damit, alte Vermögen zu verwalten, abzusichern und umzuschichten.

Dieses «Konsumwunder» ruht auf drei Säulen:

  1. Auf einer hohen und stetig steigenden Produktivität von aktuell 83 Franken pro Stunde.
  2. Auf Fleiss: Wir arbeiten pro Beschäftigten jährlich 1572 und pro Kopf der Bevölkerung 960 Stunden – rund 30 Prozent mehr als etwa die Deutschen.
  3. Auf einem breit gestreuten Konsum: Die hohe Beschäftigung wäre nicht möglich ohne die Tatsache, dass alle Bevölkerungsschichten viel konsumieren.

Wir konsumieren alle viel...

Wie aus der Statistik der Haushaltsausgaben hervorgeht, konsumiert das ärmste Fünftel aller Haushalte pro Kopf nur 10 Prozent weniger als der Durchschnitt, das reichste Fünftel bloss 22 Prozent mehr.

Betrachtet man nur die wirtschaftlich aktive Bevölkerung (die Zwei-Personenhaushalte unter 65), sind die Unterschiede etwas grösser: Das ärmste Fünftel konsumiert 27 Prozent weniger als der Durchschnitt, das reichste 37 Prozent mehr – also nicht ganz doppelt so viel. Die übrigen Fünftel liegen dazwischen.

Konsumausgaben in der Schweiz

Paarhaushalte unter 65 Jahren, Ausgaben in Franken pro Monat. Quelle: bfs (2010)
Paarhaushalte unter 65 Jahren, Ausgaben in Franken pro Monat. Quelle: bfs (2010)
grafik: watson

Dass das ärmste Fünftel (zu dem auch die meisten Arbeitslosen und Frühpensionierten gehören) so viel konsumiert, hat zwei Gründe:

  1. Der durchschnittliche Stundenlohn ist mit rund 29 Franken brutto (gegenüber 82 Franken für das reichste Fünftel) relativ hoch.
  2. Etwa ein Drittel des Einkommens beruht in diesem Bevölkerungsteil auf Sozialleistungen, Zuwendungen von Dritten und auf Vermögensverzehr.

... und stecken trotzdem in der Klemme

Doch trotz allem stecken wir in der Klemme: Wir stellen einerseits viel mehr Zeug her als der Umwelt gut tut, und andererseits konsumieren wir immer noch 15 bis 20 Prozent zu wenig, um unsere Produktivität ohne Arbeitslosigkeit und chronische Überschüsse auslasten zu können.

Trotz riesiger Exportüberschüsse und einer hohen Nettoeinwanderung gibt es etwa 5 Prozent Arbeitslose und Ausgesteuerte in der Schweiz.

Was, wenn die Exporte stagnieren, der Bauboom platzt, die Produktivität weiter steigt?

Wie kommen wir aus dem Dilemma heraus?

Ein Niedriglohnsektor mit Mindestlöhnen von bloss 8.50 Euro (entspricht etwa 9.25 Franken), wie ihn Deutschland geschaffen hat, ist kein Ausweg. Damit brechen Konsum und Beschäftigung erst recht ein, und zudem steigt der Zwang, möglichst lange zu arbeiten.

Die einzige Lösung für das Nachfrageproblem sind «markträumende» Löhne: Die Wirtschaft muss die Lohn- und Kapitaleinkommen (die 83 Franken pro Stunde und pro Kopf) so verteilen, dass das BIP voll konsumiert und wieder investiert werden kann – ohne Arbeitslosigkeit und ohne chronische Exportüberschüsse.

Die Rechnung zeigt: 35 Franken braucht's

Die 83 Franken setzen sich zusammen aus 17 Franken Investitionen (Maschinen, Infrastruktur, Wohnungen etc.) und 66 Franken Konsum (11 Franken Staatskonsum – Verwaltung, Schulen, Sicherheit und 55 Franken Privatkonsum).

Zur Vereinfachung nehmen wir an, dass die Investitionen über die Kapitaleinkommen (bzw. durch Umverteilung) und die 66 Franken Konsum über die Löhne finanziert werden. Zu diesem Zweck muss die Lohnsumme gleich verteilt werden wie der Privatkonsum.

Konkret heisst das: Das ärmste Fünftel der Erwerbstätigen muss 73 Prozent von den 66 Franken Durchschnittslohn verdienen müssen, also 48 Franken. Das reichste Fünftel kassiert 137 Prozent vom Durchschnitt, also 90 Franken. Der Rest liegt dazwischen.

So hoch müssten die Brutto-Löhne sein

In Franken pro Stunde
In Franken pro Stunde

Diese Löhne verstehen sich brutto. Darin sind sämtliche Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge für AHV, Arbeitslosenversicherung und die 2. Säule enthalten. Der Lohn deckt also auch den Konsum der Pensionierten und der Arbeitslosen.

Soweit unsere Modellrechnung.

Was heisst das für die Wirtschaftspolitik?

Selbstverständlich kann die Politik nicht alle Löhne bestimmen. Sie kann aber zusammen mit den Sozialpartnern nationale, regionale oder branchenspezifische Mindestlöhne so festlegen, dass sich im untersten Fünftel ein Lohnniveau von etwa 48 Franken brutto bzw. etwa 42 Franken netto einpendelt.

35 Franken netto müssten es vermutlich schon sein. So gesehen, ist der Mindestlohn von monatlich 3415 Franken (bzw. rund 23 Franken pro Stunde), den das Zürcher Amt für Wirtschaft für den Detailhandel vorgeschlagen hat, wirtschaftsfeindlich.

Damit können Industrie und Gewerbe ihr Produktionspotenzial bei weitem nicht ausschöpfen – zumindest nicht ohne massive staatliche Umverteilung und Exportüberschüsse.

Markträumende Löhne allein lösen zwar das Umweltproblem nicht, aber mit Stundenlöhnen von 48, 57 oder 63 Franken kann sich auch der Normalverdiener den einzigen Luxus leisten, der die Umwelt nicht belastet – mehr Freizeit. Die Schweiz ist auch dann noch ein reiches Land, wenn wir – wie die Deutschen  – pro Kopf statt 960 nur noch 730 Stunden arbeiten.

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34 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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walsi
19.04.2016 14:50registriert Februar 2016
So neu ist die Erkenntnis nicht, wenn die Leute zu wenig verdienen können sie folglich weniger konsumieren. Mehr Konsum bedeutet mehr Wachstum und folglich mehr Investitionen, was im Grunde nur eine andere Form von Konsum ist, und somit werden mehr Leute eingestellt. Das hebt die Grundstimmung und somit die Konsumfreude usw. Das Problem ist nur, dass ein unbegrenztes Wachstum in einem begrenzten Raum nicht funktioniert. Folglich müssen wir auch mal über Wirtschaftsmodelle nachdenken die auch ohne Wachstum auskommen.
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7immi
19.04.2016 15:10registriert April 2014
ist meine annahme richtig, dass dieses modell von gleichbleibenden güterpreisen ausgeht? falls ja, ist das ein fataler fehler. denn steigender lohn heisst automatisch teureres produkt. somit müsste man dann diesen sehr hohen mindestlohn nach kurzer zeit weiter erhöhen usw. das ganze würde eskalieren...
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Tschudi_Joe
19.04.2016 16:13registriert Oktober 2015
Mein Buchtipp an den Autoren: Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Von Dietrich Dörner. Ich bin mir nicht sicher, ob dies hier möglich ist Werbung zu machen. Ansonsten schöne Gedanken die aber in der Umsetzung nicht wie gewünscht wirken werden.
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