Am Mittwoch hat die türkische Lira gegenüber den wichtigsten Währungen 5 Prozent, seit Beginn dieses Jahres mehr als 20 Prozent verloren. Die Inflation liegt bei 11 Prozent und die türkische Nationalbank musste die Leitzinsen von 13,5 auf 16,5 Prozent erhöhen.
Gleichzeitig haben allein die türkischen Unternehmen Auslandschulden in der Höhe von 295 Milliarden Dollar. Die Last der Schuldzinsen wird höher, je tiefer die Lira fällt. Mit anderen Worten: die türkische Volkswirtschaft befindet sich in einer misslichen Lage.
Dani Rodrik, einer der renommiertesten Handelsökonomen der Welt und Professor an der Harvard University, hat türkische Wurzeln und kennt das Land bestens. Er ist überzeugt, dass die Zentralbank derzeit bloss drei Optionen hat, um den freien Fall der Lira zu bremsen. Alle sind lausig: «1. Sie kann ihre Dollars verkaufen und so ihre Devisenreserven verbrauchen. 2. Sie kann eine massive Erhöhung der Leitzinsen ankündigen. 3. Sie kann Kapitalkontrollen einführen. Wähle dein Gift.»
Die missliche Lage der Zentralbank wird noch verschärft durch die Tatsache, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan die elementaren Gesetzmässigkeiten der Geldpolitik nicht wirklich begriffen hat. Er bezeichnet höhere Leitzinsen als «beides, die Mutter und den Vater von allen Übeln» und hat einst ernsthaft behauptet, höhere Leitzinsen würden zu einer höheren Inflation führen.
Gleichzeitig betont Erdogan immer wieder, wie wichtig ihm die Unabhängigkeit der Zentralbank sei. Angesichts solchen Schwachsinns hat er jedoch das Vertrauen der Investoren verloren. Sie gehen davon aus, dass er die Zentralbank unter Druck setzt, die Leitzinsen nicht noch weiter zu erhöhen. Das bedeutet nach Adam Riese, dass der Kurs der Lira weiter fallen wird. Wer kann, bringt seine Devisen deshalb so schnell wie möglich ins Ausland.
Der Lira-Crash erwischt Erdogan auf dem falschen Fuss. Um seine Macht zu sichern, hat der Präsident vorzeitige Wahlen auf den 24. Juni angesetzt. Er erhofft sich dabei die Konsolidierung seiner bereits sehr grossen Machtfülle. Eine Panik könnte ihm nun die Wahlen versauen, denn seine Popularität hat in jüngster Zeit ohnehin gelitten.
Diktatoren neigen dazu, in Krisenzeiten die Schuld bei anderen zu suchen. Erdogan ist keine Ausnahme. Anstatt seine Wirtschaft in Ordnung zu bringen, wettert er gegen Deutschland und die EU. «Die Europäer glauben, sie seien die Wiege der Zivilisation, aber sie haben versagt», tobte er jüngst an einer Wahlveranstaltung und pries gleichzeitig die Vorzüge des ehemaligen Osmanischen Reiches.
Aussenpolitisch bewegt sich Erdogan auf dünnem Eis. Die Türkei ist nach wie vor Mitglied der NATO, geht jedoch auf Distanz zum Westen und flirtet mit Russland. In Syrien kämpft Erdogan gegen die Kurden, die mit den USA verbündet sind, und ist gleichzeitig ein erklärter Feind des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, der seinerseits von Putin an der Macht gehalten wird.
In der «Financial Times» beschreibt Philip Stephens die Lage wie folgt: «Die Türkei befindet sich mit allen im Clinch. Die Beziehungen zu den USA befinden sich auf einem Tiefpunkt; mit Deutschland und Frankreich läuft es kaum besser. (…) Russland ist ein Schönwetter-Kamerad, dem man nicht vertrauen kann. Seine Verhandlungen mit Israel muss Erdogan verleugnen, und der Krieg in Syrien ist ihn sehr teuer zu stehen gekommen.»
Einst galt Erdogan als Vater des türkischen Wirtschaftswunders. Jetzt droht die Gefahr, dass er als Verursacher einer schweren Rezession dastehen wird. Gonul Tul vom Middle East Institute in Washington erklärt deshalb in der «Washington Post»: «Erdogan kann vieles kontrollieren, aber nicht den Dollar. Seine Tendenz, alle wirtschaftlichen Entscheidungen an sich zu reissen, werden nun zu einer Belastung. Der freie Fall der Lira könnte ihn die Wahl kosten.»