Historisch. Epochal. Unvorstellbar. Grauenvoll.
Man könnte unzählige Adjektive verwenden für das Ereignis, das sich am 11. September 2001, einem prachtvollen Spätsommertag, in den USA abspielte. Und von dem so ziemlich alle, die es miterlebt hatten, genau wissen, wie sie davon erfuhren. Denn selbst Hollywood hätte es kaum gewagt, einen derart – vermeintlich – abstrusen Plot zu verfilmen.
19 mit Teppichmessern «bewaffnete» Terroristen kaperten vier Linienflugzeuge, von denen drei ihr Ziel trafen, die Zwillingstürme in New York und das Pentagon in Washington. Eine weitere Maschine, die auf die Hauptstadt zusteuerte und im Kapitol oder im Weissen Haus einschlagen sollte, stürzte ab, weil die Passagiere sich gegen die Angreifer zur Wehr setzten.
Die Dimension der Terroranschläge an 9/11 ist derart überwältigend, dass viele sich bis heute nicht mit der offiziellen Urheberschaft von Al Kaida und Osama bin Laden abfinden und sie als Ergebnis einer Verschwörung betrachten. Oder zumindest davon ausgehen, dass die US-Regierung Bescheid wusste und sie absichtlich nicht verhinderte.
Mit 20 Jahren Abstand verblasst der «Glanz» der Verschwörungstheorien zunehmend, weil ihre Verfechter nur Indizien vorweisen können, aber keinen einzigen handfesten Beweis. Eines aber lässt sich aus heutiger Sicht feststellen. 9/11 war eine Zeitenwende. Sie beendete schlagartig die sorglosen 1990er Jahre, in denen (fast) alles möglich schien.
Begonnen hatten sie mit einem anderen Ereignis von weltgeschichtlicher Tragweite: dem Fall der Berliner Mauer am 9. November («11/9») 1989. Er war der Anfang vom Ende des Kalten Krieges. Den endgültigen Schlussstrich bildete die Auflösung der Sowjetunion 1991. Es war ein Triumph des westlichen Modells von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft.
Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama sah darin nichts weniger als das «Ende der Geschichte». Und die 90er schienen ihm recht zu geben. Die Demokratie war weltweit auf dem Vormarsch. Besonders eindrücklich war die Entwicklung in Südamerika, wo sich die meisten Länder bis in die 1980er Jahre unter der Knute von Militärdiktaturen befanden.
Weite Teile der Welt öffneten sich. In der Europäischen Union fielen mit dem Schengener Abkommen von 1990 die Grenzkontrollen weg, womit ein alter Traum Realität wurde. Auch die Reise in die USA war fast ein Kinderspiel. Wer ein Visum benötigte, konnte es nach Ausfüllen eines simplen Formulars ganz einfach per Post bestellen.
Damals regierte im Weissen Haus Bill Clinton, ein Luftibus, der immer für das eine oder andere Skandälchen gut war und dem man trotzdem nicht wirklich böse sein konnte. Wie kaum ein anderer Politiker verkörperte er das Lebensgefühl jenes sorglosen Jahrzehnts. Wozu auch der Wirtschaftsboom beitrug, den die USA in seiner Amtszeit erlebten.
Natürlich ist dieses Bild beschönigend. Die «Nineties» waren nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen. Der Zerfall Jugoslawiens verlief alles andere als harmlos. Vielmehr kehrten Krieg und Völkermord (in Srebrenica) nach Europa zurück. Weitaus gravierender noch war der Genozid in Ruanda 1994, der bis zu eine Million Menschen das Leben kostete.
In beiden Fällen hatte der Westen lange gezögert oder überhaupt nicht eingegriffen. Lieber genoss man die «Friedensdividende», und das ausgiebig. Der Begriff Spassgesellschaft wurde zu einer Art Synonym für das Lebensgefühl der 1990er. Es war purer Hedonismus, Konsum und Vergnügen waren wichtiger als soziales oder politisches Engagement.
In der Schweiz manifestierte sich die Spassgesellschaft in der Street Parade, die 1992 erstmals stattfand. Ansonsten waren die 90er für unser Land kein einfaches Jahrzehnt. Politisch stürzte die Schweiz nach dem Kalten Krieg, dem Auffliegen der Fichenaffäre und dem Nein zum EWR-Beitritt in eine Identitätskrise, die zum Aufstieg der SVP beitrug.
Wirtschaftlich führte das Platzen einer gewaltigen Immobilienblase zu einer jahrelangen, hartnäckigen Wirtschaftsflaute. Diverse Branchen erlebten einen massiven Strukturwandel, etwa Banken, Medien und Industrie. In gewisser Weise waren wir auch in den unbeschwerten 90ern ein Sonderfall, was am allgemeinen Befund aber nichts ändert.
Dann kam der 11. September und mit ihm «das Ende der Spassgesellschaft», wie es Peter Scholl-Latour, der Doyen des deutschen Auslandsjournalismus, proklamierte. Konsum und Vergnügen kehrten zurück, Sorglosigkeit und Unbeschwertheit aber nie wieder.
In den 20 Jahren seit 9/11 erlebte die Welt weitere gravierende Einschnitte, etwa die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008. Das Reisen und vor allem Fliegen ist nicht erst mit Corona mühsam geworden. Politisch befindet sich die Demokratie auf dem Rückzug. Das «Ende der Geschichte» ist vertagt, wie das Fiasko in Afghanistan zuletzt überdeutlich zeigte. Dafür trumpft mit China ein totalitärer Überwachungsstaat auf.
Der technologische Fortschritt der letzten Jahrzehnte zeigt immer häufiger seine hässliche Kehrseite. Was den Liberalismus vorantreiben sollte, wird zu seiner grössten Bedrohung. Die Welt ist fragiler geworden, auch durch die Klimakrise. Viele Junge fragen sich, ob sie jemals ein so gutes Leben haben werden wie die Generation ihrer Eltern.
Der 11. September 2001 war nicht die – alleinige – Ursache für diese Entwicklung. In gewisser Weise kann man ihn sogar als Realitätsschock verstehen, als ein jähes Erwachen aus einer Zeit, die vielleicht zu schön war, um wahr zu sein. Die aber auch ihren Beitrag dazu leistete, dass dieses im wahrsten Sinne unfassbare Terrorereignis stattfinden konnte.
Denn es war keineswegs so, dass die Anschläge aus dem Nichts erfolgten. Schon 1993 wurde in der Tiefgarage des World Trade Center eine Autobombe gezündet. Al Kaida war nur am Rande beteiligt, in der Folge aber verübte das Terrornetzwerk weitere Attacken auf US-Ziele: 1996 bei einer Luftwaffenbasis in Saudi-Arabien, 1998 auf die Botschaften in Kenia und Tansania, 2000 auf den Kreuzer USS «Cole» im Hafen von Aden (Jemen). Die Konsequenzen aber blieben aus.
Nur in einem Klima von Sorglosigkeit und Schlamperei war es möglich, dass junge Araber mit einem Visum in die USA einreisen und Flugstunden nehmen konnten, ohne sich ernsthaft für Landemanöver zu interessieren. Was bei Fluglehrern für Stirnrunzeln sorgte, aber keine Alarmglocken schrillen liess.
Nur in einem Klima von Sorglosigkeit und Schlamperei war es möglich, dass die CIA ihr vorliegende Informationen über den Aufenthalt von zwei der Al-Kaida-Terroristen in den USA nicht an das FBI weiterleitete, das für ihre Verhaftung zuständig gewesen wäre. Und Warnungen vor einem «Hiroshima» in den USA einfach ignoriert wurden.
Der US-Autor Lawrence Wright schildert diese Abläufe eindrücklich in seinem Buch «The Looming Tower», einem Schlüsselwerk über Al Kaida und den «Weg zum 11. September». Die deprimierende Erkenntnis lautet, dass 9/11 hätte verhindert werden können. Das Klima der Sorglosigkeit aber sorgte dafür, dass niemand wirklich vorbereitet war.
Nein, das epochale Ereignis vor 20 Jahren war nicht das Ergebnis einer von den USA gesteuerten Verschwörung. Sondern die irgendwie konsequente Folge eines unbeschwerten Jahrzehnts, das sich am Ende selbst erledigt hat.
17-jährig, durchaus „Spassgesellschafterig“ unterwegs, hat mich 9/11 politisiert und für die Zusammenhänge dieser Welt sensibilisiert.