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Angriff auf Paris

Captagon: Die Droge der Terroristen

Die Aufputsch-Pillen für den Kämpfer: Captagon.
Die Aufputsch-Pillen für den Kämpfer: Captagon.
Bild: NIKOLAY DOYCHINOV / Reuters/REUTERS

Captagon: Die Droge für Terroristen, syrische Rebellen und saudische Prinzen

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Im Zweiten Weltkrieg griff die halbe Wehrmacht zu Pervitin, um den Krieg zu überstehen. Captagon ist die Droge für den modernen Kampf: Die Amphetamine machen Terroristen und syrische Rebellen zu angstfreien Energiemaschinen. 
21.11.2015, 10:3723.11.2015, 20:41

Im Hotelzimmer von Salah Abdeslam – einem der Terroristen von Paris – wurden Spritzen und Nadeln gefunden. Standen die Attentäter unter Drogen? Impften sie sich Mut ein, betäubten sie ihre Gehirne und Herzen, um ihren abscheulichen Mordanschlag ohne Zögern durchziehen zu können? 

Nach dem 26-jährigen Abdeslam wird noch immer gefahndet. In seinem Hotelzimmer wurden Spritzen und Nadeln gefunden. 
Nach dem 26-jährigen Abdeslam wird noch immer gefahndet. In seinem Hotelzimmer wurden Spritzen und Nadeln gefunden. 
Bild: AP/Police Nationale

Gesichert ist das alles noch nicht. Die Instrumente könnten auch dazu verwendet worden sein, Sprengstoffgürtel herzustellen. 

Fest steht allerdings, dass der Handel mit einer Droge namens Captagon im Nahen Osten seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs blüht – das haben Nachforschungen der Nachrichtenagentur Reuters und des Time Magazine ergeben. Der Verkauf der Droge innerhalb Syriens sowie nach Jordanien, in den Libanon und vor allem an Saudi-Arabien spüle Millionen von Dollar ins Land. Damit werden Waffen gekauft. Und die Kämpfer auf beiden Seiten mit dem «Mutmacher-Stoff» versorgt – damit sie sich fortwährend auf den Füssen halten können. 

Captagon – Was ist das? 
Hinter dem Handelsnamen Captagon versteckt sich der medizinische Wirkstoff Fenetyllin. Ein Amphetamin-Derivat, das als Stimulans genutzt wird. Es wirkt leistungssteigernd, aufputschend und gibt dem Konsumenten ein Gefühl von Stärke und Unbesiegbarkeit. In den 60ern kam es auf den Markt, um Hyperaktivität, Depressionen und die Schlafkrankheit (Narkolepsie) zu behandeln. 1986 landete Fenetyllin dann auf der Verbotsliste der Welt-Antidoping-Agentur. Es macht hochgradig süchtig. Bei einer Überdosis oder regelmässiger Einnahme kann es zum Herz-Kreislauf-Zusammenbruch, Psychosen und bleibenden Hirnschäden kommen. Eingenommen wird es gewöhnlich oral, als Pille, doch auch die nasale, rektale und intravenöse Einnahme ist bekannt, nur birgt sie zusätzliche Risiken.

Der syrische Bürgerkrieg als Katalysator der Captagon-Abhängigkeit 

Eine Menge Hände greifen im mittleren Osten nach Captagon, neben syrischen Gangs hat auch die Hisbollah ihre Finger in diesem dreckigen Handel, genauso wie Mitglieder der saudischen Königsfamilie: Im Oktober hatte die libanesische Polizei Prinz Abdel Mohsen Bin Walid Bin Abdulaziz am Flughafen von Beirut festgenommen. An Bord seines Privatflugzeuges entdeckten Ermittler zwei Tonnen der Amphetamin-Pillen und Kokain, verpackt in 40 Koffer. Die Maschine wollte damit nach Saudi-Arabien fliegen. 

In den Trümmern von Duma. Der Bürgerkrieg in Syrien fordert tausende von Menschenleben.
bild: reuters

Der Katalysator für die Ausbreitung von Captagon ist der syrische Bürgerkrieg. Und egal, auf welcher Seite sie stehen, die Sucht nach den kleinen Pillen vereint sie alle: königliche und unkönigliche Saudis, Anti-Assad-Rebellengruppen, Salafisten, Hisbollah-Milizen – und nicht zuletzt die vom Krieg gezeichnete, vollkommen verzweifelte Zivilbevölkerung. 

«Syriens Kriegsdroge» – ein Dokumentarfilm

Captagon gibt dir das Gefühl, unbesiegbar zu sein. Die syrischen Kämpfer macht es unerschrocken, sie fühlen sich mächtig: 

«Du bist körperlich fit und wenn zehn Leute vor dir stehen, kannst du sie ansehen und töten.»
Ex-Kämpfer der syrischen Rebellen
Bild
bild: screenshot youtube/journeyman pictures
«Ich fühlte mich, als gehöre mir die Welt. Als ob ich eine Macht hätte, die niemand sonst hat. Ein wunderbares Gefühl.»
Ex-Kämpfer der syrischen Rebellen

Journeyman ist ein unabhängiges Unternehmen mit Sitz in England, das weltweit Dokumentationen aus gefährlichen Regionen vertreibt und koproduziert. Eine davon ist «Syria's War Drug». Die Macher dieses Dokfilms begleiteten den libanesischen Investigativ-Journalisten Radwan Mortada in illegale Captagon-Fabriken, wo die Pillen mit Hilfe von Schokoladenmaschinen gestanzt werden. Sie besuchten junge Captagon-Junkies in einem Armenviertel von Beirut und sprachen mit dem Assad-Oppositionellen Abu Sus, der im Jahr 2014 rund sechs Millionen Dollar mit dem Verkauf von Captagon verdient hatte.

«Syria's War Drug»

Ein sehr sehenswertes, halbstündiges Dokument über den Captagon-Handel und -Konsum in Syrien und Umgebung. 
YouTube/Journeyman Pictures

Mortada sitzt mit ein paar arbeitslosen Jungs in einem düsteren Loch von Wohnung irgendwo in Beirut. Der eine zerhackt seine Captagon-Pillen und zieht sie sich in die Nase. Dann würden sie am schnellsten wirken. Man könne sie aber auch mit Ecstasy nehmen oder mit Hasch, alles sei möglich. Er erzählt, dass die Droge auch an den Universitäten vertickt werde. Mortada soll es nicht versuchen, man komme nicht wieder davon los:

«Du kannst nicht schlafen, nicht einmal die Augen schliessen. Was immer du nimmst, um es zu stoppen, vergiss es. Nichts kann es stoppen. Es ist wirklich gut.» 
Einer der abhängigen Libanesen
Bild
bild: screenshot youtube/journeyman pictures

Ein anderer Süchtiger sagt: «Du fühlst nichts mehr.» Viel wissen sie nicht über die Droge, die sie alles vergessen lässt. Nur, dass sie von Syrien kommt. 

Von dort aus wird sie nach Jordanien, nach Saudi-Arabien oder eben in den Libanon geschmuggelt. Aber inzwischen gibt es auch hier schon Captagon-Fabriken. Das Filmteam besucht eine, die nicht weit ausserhalb Beiruts liegt. 

Bild
bild: screenshot youtube/journeyman pictures

«Wie viel produzieren Sie täglich?», fragt Mortada. Das komme darauf an, ob Elektrizität da sei, wie viel verlangt werde, und ob die Schmuggelwege offen seien, erwidert einer der Fabrikanten. Auf die Frage, wer die Drogen bestelle, kriegt der Journalist keine Antwort. Die Männer verstecken die Ware in Taschentuch-Paketen, das sei das Einfachste. Manchmal stecken sie es auch in Salate, Shampoo-Flaschen oder Haargel-Dosen. 

Die Pillen werden für den Schmuggel in Taschentuch-Päcklein versteckt.
Die Pillen werden für den Schmuggel in Taschentuch-Päcklein versteckt.
bild: screenshot youtube/journeyman pictures 

Viele der Rebellen sind inzwischen in den Libanon geflohen. Mortada trifft zwei Ex-Kämpfer in der Bekaa-Ebene, wo sie jetzt leben. 

«Der Brigadenkommandant kam und sagte, die Pillen würden uns Energie geben, also nahmen wir sie. Du bist die ganze Zeit wach, du denkst nicht einmal ans Schlafen. Du hast keine Mühe damit, den Checkpoint zu verlassen, die Pillen geben dir grossen Mut und Macht. Wenn der Kommandant mir sagt, geh und durchbrech die militärischen Barrikaden, dann mach ich das mit mutigem Herzen und ohne einem Hauch von Angst.»
Ex-Kämpfer der syrischen Rebellen 
Der Ex-Kämpfer einer syrischen Rebellenbrigade erzählt von der Abhängigkeit, in die Captagon ihn und seine Kameraden gestürzt hat. 
Der Ex-Kämpfer einer syrischen Rebellenbrigade erzählt von der Abhängigkeit, in die Captagon ihn und seine Kameraden gestürzt hat. 
bild: screenshot youtube/journeyman pictures
«Unsere Brigade zählte etwa 350 Männer. Wir alle nahmen Captagon. Das Positive daran ist, dass du 24 Stunden am Tag wach bist. Schlimm daran ist, dass es die Leute abhängig macht. Es zerstört sie. Das ist das Problem. Alle Brigaden um uns herum nahmen die Pillen. Und viele wussten nicht einmal, was es war, ob es sich um Drogen oder einfach nur Medizin handelte.»
Ein weiterer Ex-Kämpfer der syrischen Rebellen

Von «Göring-Pillen» bis zur «Terroristen-Droge»

September 1942: Ein deutscher Soldat der 24. Panzerdivision schläft auf seinem Beiwagen in Südrussland.
September 1942: Ein deutscher Soldat der 24. Panzerdivision schläft auf seinem Beiwagen in Südrussland.
bild: bundesarchiv/ sautter 

Dass sich Soldaten mit Drogen aufputschen, ist kein neues Phänomen: Bereits im Zweiten Weltkrieg dopte sich die Wehrmacht, allen voran die Piloten und die Besatzungen gepanzerter Fahrzeuge. Sie bekamen das Pervitin – das heutige Crystal Meth – ganz offiziell von ihren Vorgesetzten. Bei den Deutschen trug das Zeug allerdings andere Namen: «Göring-Pillen» oder «Panzerschokolade». 

«Stimulans für Psyche und Kreislauf» – Werbung für die Droge Pervitin.
«Stimulans für Psyche und Kreislauf» – Werbung für die Droge Pervitin.
bild: Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln

Im Vietnam- und Koreakrieg war es nicht viel anders. Die Attentäter von Mumbai griffen ebenso zu Pillen wie der «IS»-Terrorist, der im Juli dieses Jahres in Tunis ein Blutbad anrichtete. Im Fall von Paris bleiben die Ergebnisse der Laboruntersuchungen noch abzuwarten. 

[viw,21.03.2016] Anschläge in Paris

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12 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Tropfnase
21.11.2015 11:16registriert Juni 2015
Ajajaj wen dass Allah wüsste!
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Zeit_Genosse
21.11.2015 12:36registriert Februar 2014
Interessanter Bericht in aktuellem Kontext. Danke.
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PolloHermano
21.11.2015 11:27registriert Juni 2014
Also würden allfällige Bodentruppen gegen gehirngewaschene, drogenabhängige Dschihadisten kämpfen, welche ihr Leben liebend gerne aufopfern, um noch ein paar feindliche Kämpfer mit in den Tod zu reissen? Das kann doch nur fatal enden!
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