Im März 1919 betritt eine Frau den Westminster Palace und schaut sich den Garderobenhaken an, den ihr Name ziert: Constance Markievicz steht da geschrieben. Sie ist die erste gewählte Parlamentarierin. Doch an den Sitzungen wird sie nicht teilnehmen. Sie gehört zur Sinn-Féin-Partei, zu den Widersachern des britischen Königreichs, die für die Unabhängigkeit Irlands kämpfen – und sich dem Schwur auf den König verweigern.
Hundert Jahre später, im Januar 2018, kündigt die britische Premierministerin Theresa May an, die erste Frau im britischen Parlament mit einer Ausstellung im Westminster ehren zu wollen. Zur Feier des Frauenwahlrechts – und im Namen des Feminismus. Ein Hoch auf Constance Markievicz!
Nur hat diese ihr Leben dem Kampf gegen das britische Königreich verschrieben. Constance hasste England. Und statt des Sitzes im britischen Parlament nahm sie ihren Platz als Arbeitsministerin im First Dáil ein – der 1916 neu gegründeten irischen Regierung – die von den Briten verboten wurde.
Aber lasst uns von vorn beginnen.
Die mächtige Fensterfront des Hauses Lissadell im irischen County Sligo schaut auf den wilden Atlantik, dessen Wellen unnaufhörlich gegen die Küste klatschen. Die Landschaft hier ist stets eingehüllt in einen sanften Nebel und in der östlichen Ferne erhebt sich der Ben Bulben, ein 527 Meter hoher Tafelberg. An dessen Fuss, so erzählt man sich, liegt das Tor zum Land der Feen.
Hier wächst Constance Gore-Booth zu einem heiteren Mädchen heran. Schön und selbstbewusst wie ihre gräfliche Mutter und abenteuerlustig wie ihr Vater Sir Henry, ein reicher anglo-irischer Landlord, dem 13'000 Hektar von Sligo County gehören. Immer wieder zieht es den Mann in die Ferne, in die eisigen Wasser der Arktis. In seinem Arbeitszimmer stehen die Trophäen seiner Expeditionen, Stosszähne von Walrössern und die Schädel von riesigen Meeresbewohnern.
Henrys Vorfahren kamen im 16. Jahrhundert nach Irland, im Namen Elisabeths I. eigneten sie sich das Land an und machten die Iren zu ihren Pächtern. Mitte des 17. Jahrhunderts überzog Oliver Cromwell das Land mit einem blutigen Krieg. Der Führer der nur elf Jahre währenden englischen Republik siedelte wohlhabende protestantische Engländer und Schotten auf der Insel an. Diese englischen «Plantations» in Irland, speziell in Ulster, löschten die Klasse der irischen Landbesitzer aus und legten den Grundstein für den Jahrhunderte andauernden Konflikt zwischen armen Katholiken und wohlhabenden Protestanten.
Irland war für die Briten nichts weiter als eine Kolonie, und mit der typisch imperialistischen Arroganz eines Empires beuteten sie ihre «unzivilisierten» Inselnachbarn aus. Für die katholischen Iren, denen nach Cromwells Eroberung sogar die britische Staatsbürgerschaft abgesprochen wurde, waren die Engländer nichts weiter als fremde Unterdrücker, die Verursacher ihrer elenden Armut.
1775 gehört 95 Prozent Irlands den Protestanten. Und als 70 Jahre später die Kartoffelfäule die Ernten der Iren zunichte macht, lassen die Briten sie buchstäblich verhungern. Sie verhindern die Nahrungsmittellieferungen aus den USA so lange, bis die internationalen Proteste zu laut werden. Wehrlos schauen unzählige Iren dabei zu, wie ihr Getreide nach England exportiert wird, während sie von ihrem Land vertrieben werden, weil sie ihre Pacht nicht mehr zahlen können. Eine Million Menschen verhungert. Eine Million wandert aus – die meisten in die USA.
Constance wird in die besseren Jahre des «Post-Famine» hineingeboren. Und die rund 1000 Pächter ihres Vaters haben Glück. Henry ist ein guter Landlord, hört sich die Sorgen seiner Bauern an und reduziert die Pachthöhe für diejenigen, die sie nicht bezahlen können.
Doch das Landlord-System an sich wird auch im Hause Lissadell nicht hinterfragt. Es gebe nur schlechte Landlords, welche die Ordnung schlecht machten, meint Henry. Mit Politik beschäftigte man sich hier nicht. Der Status quo war etwas Gottgegebenes, so wie es das Meer und die Berge waren.
Auch in Constance war noch nichts Politisches, wie auch, sie wurde zuhause in Musik und Literatur unterrichtet, die klassische Ausbildung für ein Mädchen von ihrem Status. Einzig ihr angeborener Sinn für Gerechtigkeit, ihr tiefe Empathie für die armen Leute wies auf das Wesen, das sie einmal werden würde. Als junges Mädchen verkleidete sie sich einmal als Bettlerin und verstellte einem Freund den Weg. Er stiess sie unsanft zur Seite, und erst als sich Constance ihrer Lumpen entledigte, erkannte er ihre wahre Identität.
Das Mädchen liebte das Reiten und Jagen. Sie drängte darauf, sich zu beweisen in einem Bereich, der nicht häuslich war. Eine Freundin schrieb über Constance:
Sie stach tatsächlich hervor, etwas Wildes, Unzähmbares lebte in ihr. Man sah es daran, wie sie ritt. Dieses schlanke, robuste Mädchen war nicht nur furchtlos, sie suchte die Gefahr.
Mit 18 Jahren wird sie in die vornehme Londoner Gesellschaft eingeführt. Constances Leben besteht aus den üblichen Vergnügungen – Pferderennen in Ascot, Jagdausflüge, Bälle und Empfänge. Mit ihren aussergewöhnlichen Kleidern fällt Constance auf, sie spricht frei und ungehemmt, raucht und trägt manchmal auch Hosen.
In Dublin ist der Treffpunkt der Upper Class das Castle. Es ist der Sitz der britischen Verwaltung in Irland, das sich seit dem Act of Union – der staatlichen Vereinigung der beiden Königreiche zum Vereinigten Königreich Grossbritannien und Irland – dort ansiedelte. Hier gab der Repräsentant des englischen Königs, der Lord Lieutenant of Ireland, seine rauschenden Bälle. Hier tanzte man sich noch immer leichtfüssig über die Unabhängigkeitsbestrebungen der sogenannten Separatisten hinweg, über die immer lauter stampfenden Füsse, die für ein unabhängiges Irland polterten.
Als sie bei einer Dinnerparty im Castle eine Hand auf ihrem Knie spürt, hebt sie sie für alle sichtbar in die Höhe und ruft mit lauter Stimme: «Schaut nur, was ich gerade in meinem Schoss gefunden habe!» Constances Mutter beginnt sich allmählich Sorgen zu machen. Wer soll diesen Wildfang je zur Frau nehmen wollen?
Auch Constance spürt, dass es für sie langsam Zeit wird. Sie ist jetzt 24 Jahre alt und lebt noch immer auf Kosten ihrer Eltern. Doch sie hat noch nichts gefunden, das ihre Sehnsüchte bündeln würde, kein Mann und auch keine Aufgabe. In ihr Tagebuch schreibt sie:
Bald glaubt sie, es gefunden zu haben. Contance beginnt mit einem Kunststudium in London, dann zieht sie nach Paris. Sie will Teil der Bohème werden, der intellektuellen Avantgardisten, die in ihren verlöcherten Kleidern in Cafés sitzen und Kunst neu erfinden.
Hier fühlt sich Constance zum ersten Mal frei. Sie ist nicht die Tochter von irgendjemandem, keine Lady und keine Gräfin, sondern sich selbst. Dass sie kaum genug zu Essen hat, scheint sie in keiner Weise zu stören. 1899 lernt die 31-Jährige den polnisch-russischen Adligen Casimir Dunin-Markievicz kennen. Er ist sechs Jahre jünger als sie, Witwer und Vater eines kleinen Sohnes. Aber vor allem ist er ein Künstler. Casimir inspiriert sie, erfüllt sie mit dem Wunsch, «etwas zu schaffen».
Als Tochter Maeve in Lassedell zur Welt kommt, lässt Constance die Kleine bei ihrer Mutter. Das Künstlerleben, das sie mit Casimir führt, ist zu unsicher für ein kleines Kind. Die Beziehung zu ihrer Tochter bleibt stets eine distanzierte, Constance haftet deshalb der typische Vorwurf einer schlechten Mutter an.
Doch all ihre Bindungen waren stets kameradschaftlicher Natur – selbst die zu Casimir. Constance sehnte sich danach, in etwas Grösserem, etwas Allgemeinem aufzugehen. Bald langweilte sie auch das Künstlerinnendasein, das Grüblerische und Prozesshafte einer kreativen Arbeit lag ihr nicht. Ihr Herz war im Grunde einfach, leidenschaftlich und spontan.
Die Kunst, die sie nun an ihrem neuen Wohnort Dublin schafft, ihre Theaterstücke und die schauspielerischen Darbietungen sind bald nur noch einem einzigen Ziel untergeordnet: der Idee eines unabhängigen Irlands.
James Joyces «Ulysses» beschreibt Dublin so, wie es im Jahr 1904 war: Schäbig und schick zugleich, eine literarische Stadt, in der es fast so viele Buchbinder wie Schuhmacher gab. Eine Industrie suchte man allerdings vergeblich. Dublin war voll von Arbeitslosen und einfachen Arbeitern ohne bestimmte Fertigkeiten. Sie hausten in den eleganten georgianischen Häusern aus rotem Backstein, die Zeugen einer besseren Zeit, in der Irland noch sein eigenes Parlament besass. Die reichen Bewohner verliessen die Häuser, wo jetzt mehrere Familien in ein und demselben Raum zusammengepfercht ihre trüben Leben fristeten.
Die Armen von Dublin sind bitterarm. Bäder gibt es nicht und durch viele Gassen rinnen übel riechende Bächlein von Kot, Urin und anderem Unrat.
Mitten in diesem Gestank reift Constances politisches Bewusstsein. Sie ist umgeben von Dichtern wie William Butler Yeats und George William Russell, die sich der kulturellen Revolution Irlands verschrieben haben. Sie lassen die keltischen Mythen wieder aufleben, bevölkern ihre Gedichte mit alten Göttern und Helden. Der gälische, irische Geist war wieder erwacht. Und die Dubliner übersetzten ihre Namen ins Irische.
Auf die englische Arroganz und Überlegenheitsduktus reagierten die Iren mit der Romantisierung ihrer eigenen Rasse. Alles war durchdrungen von der nationalistischen Idee eines unabhängigen Irlands.
1907 mietet Constance eine Hütte in den Dublin Mountains, um dort die Landschaft zu zeichnen. An der Wand hängt ein Bild von Arthur Griffith, der die irisch-patriotischen Vereinigungen zwei Jahre zuvor unter einem Dach zusammenfügte: Er gründete die Partei Sinn Féin, deren Ziel es war, eine vom britischen Königreich unabhängige irische Regierung zu bilden.
Der Vormieter hat «The Peasant» und den «United Irishman» in der Hütte liegenlassen, Zeitschriften mit scharf nationalistischem Ton, der jetzt in Constances Ohren dringt und ihre irische Seele zum Schwingen bringt. Endlich versteht sie, wofür die Helden Robert Emmet und Wolfe Tone gestorben sind. Constance ist erwacht, wie sie in ihrem Tagebuch schreibt.
Sie tritt der Sinn Féin bei und schliesst sich den «Daughters of Irleand» (irisch: «Inighnidhe na h'Éireann») an, einer revolutionären Frauenrechtsorganisation, die bald eine militant nationalistische Zeitschrift herausgibt.
1909 erscheint darin Constances erster Artikel über Gartenarbeit:
«Es ist eine unangenehme Arbeit, Nacktschnecken und andere Schädlinge zu töten, aber lassen wir uns nicht entmutigen. Eine gute Nationalistin sollte auf die Schnecken in ihrem Garten in der gleichen Weise herabblicken, wie sie auf die Engländer in Irland blickt, und nur bedauern, dass sie die Feinde der Nation nicht genauso einfach vernichten kann wie die im Garten, mit nur einem Schritt ihres Fusses.»
Die Zeitschrift heizte die Debatten zwischen den verschiedenen Frauenrechtsorganisationen an. Manche Suffragetten waren der Ansicht, das Stimmrecht sei erste Priorität. Für Constance aber war die Schaffung eines irischen Parlaments vorrangig:
Constance mag eine Feministin gewesen sein, doch ihre Identität formte sich nicht in erster Linie aus ihrer Weiblichkeit, sondern aus ihrem Irischsein. Und bald trat zu ihrem nationalistisch gesinnten Wesen auch eine sozialistische Komponente hinzu.
Sie besuchte nicht mehr länger die Bälle im Dublin Castle, ihre Räume waren von nun an die der Liberty Hall, wo James Larkin die irische Gewerkschaftunion gründete. Constance schrieb über ihn:
Big Jim nannten ihn die Arbeiter und er war es, der den grossen Dubliner Streik 1913 /14 anführte. Er war die Antwort auf die Aussperrungen der Arbeiter, auf die sich die Inhaber grosser Betriebe wie die Dublin United Tramway Company verständigten. Sie beabsichtigten damit nichts Geringeres als das Aushungern der Männer, in dessen Köpfe die sozialistische Idee eines menschenwürdigen Lebens geschlichen war. Anstelle der 25'000 auf die Strasse gesetzten Arbeiter stellten sie britische Streikbrecher ein.
Chaos brach aus auf den Strassen, die Massenaufläufe der Ausgesperrten gegen die Streikbrecher endeten oft in wilden Schlägereien, die Polizei schoss am 31. August 1913 in die Menge – das war der erste von drei Blutsonntagen der irischen Geschichte.
Die Lebensverhältnisse der Arbeiter verschlechterten sich derart, dass Constance sich Tag und Nacht in der Suppenküche der Liberty Hall abschuftete, um die Dubliner Familien vor dem Hungertod zu bewahren. Dafür bekam sie den Ehrennamen «Madame» – und die Zuneigung der Menschen, die sie bis zu ihrem Tod nicht wieder verlieren würde.
Der passive Widerstand war gescheitert. James Connolly, ebenfalls ein marxistischer Aktivist und Freund von Constance und Larkin, gründet nun die Irish Citizen Army (ICA) zum Schutz der Arbeiter vor der polizeilichen Gewalt. Constance steht mit den beiden Männern auf der hölzernen Bühne, als Connolly verkündet: «Hört mir zu, ich rufe euch zum Aufstand auf! Nächstes Mal, wenn wir marschieren, will ich begleitetet werden von vier Bataillons trainierter Männer.»
Bald schon wird die ICA zur Irish Republican Army (IRA) aufsteigen, unterstützt von den Irish National Volunteers die aus katholischen Nationalisten hervorgeht und im Mai 1914 bereits 75'000 Männer zählt.
Im Parlament wird derweil die «Home Rule Bill» verhandelt – der Wunsch der Mehrheit der Iren nach Selbstverwaltung. Doch im nördlichen Ulster, wo die Protestanten in der Mehrheit sind, drängt man auf eine Abspaltung des Nordens. Dort fühlt man sich dem britischen Königreich zugehörig. Um ihrem Vorhaben militärischen Ausdruck zu verleihen, wird auch auf dieser Seite eine private Armee gegründet – die Ulster Volunteer Force.
Irland steht am Rande eines Bürgerkriegs. Doch nur wenige Wochen später wird der Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo ermordet – und die Probleme Irlands sollten verschoben werden – solange bis der europäische Krieg gewonnen sei.
Constance setzt sich in den Armeerat der ICA, bereit für den bewaffneten Kampf. Sie rekrutiert junge Männer und bildet sie im Schiessen aus. In ihrem Haus im Süden Dublins treffen sich die Revolutionäre. «Bevor sie morgens runter kam, wusste sie nie, welche Gäste sich unter ihrem Dach versammelt hatten. Manche kamen nachts durchs Fenster rein, um sie nicht zu stören», schreibt eine Freundin von Constance.
Viele waren bereit, den Märtyrertod für die Freiheit ihres Landes zu sterben. So wie sich die restlichen europäischen Soldaten anfänglich euphorisch in die Weltschlacht stürzten, heroisierten auch die Iren ihren heimatlichen Kampf.
Aus diesem Geist wurde die Idee einer Revolution gegen die Krone geboren. Sie sollte am 23. April 1916 stattfinden, am Ostersonntag.
Constance trägt an diesem Tag eine dunkelgrüne Bluse, eine grüne Kniehose aus Tweed, die sie vorerst unter einem langen Rock verbirgt. Ihre Füsse stecken in schweren Stiefeln und um die Hüfte hat sie einen Gürtel geschlungen, an dem auf der einen Seite eine Automatik, auf der anderen ein deutsches Gewehr baumelt. Ein Patronengurt ziert ihre Schulter.
Sie ist Stabsleutnant und der «Geist» hinter dem ICA-Führer James Connolly, die geheime Zweitfrau, die im Falle seines Todes dessen Aufgaben ausführen soll. Patrick Pearse wird die Volunteers befehligen, während Éamon de Valera die gemischten Truppen der Irish Republican Army anführt.
Nur Tage vor dem geplanten Aufstand wird das Schiff mit der deutschen Waffenlieferung beschlagnahmt. 20'000 Gewehre und 10 Maschinengewehre befanden sich an Bord. Durch den Verlust der Waffen nervös geworden, blasen einige Führer zum Rückzug, andere führen den vorher abgesprochenem Plan einen Tag später aus.
Es ist ungewöhnlich heiss an diesem Montagmittag, als Connolly mit seinem kleinen Trüppchen die Liberty Hall verlässt, um das General Post Office zu besetzen. Auf dem Dach weht bald darauf die Trikolore, in orange, weiss und grün. Daneben wird die von Constance entworfene Flagge gehisst: Eine goldene Harfe auf grünem Hintergrund, darüber stehen die Worte «Irish Republic».
Pearse stellt sich auf den untersten Tritt der Post und verliest die Proklamation. Die Herumstehenden sind von seinen pathetischen Worten wenig beeindruckt:
Die Rebublikaner nehmen am ersten Tag das Dublin Castle ein, die City Hall, die Four Courts und den Park St.Stephen Green, wo die Besucher erst davon überzeugt werden müssen, dass sie den Platz räumen müssen für eine Revolution. Constance radelt zwischen den verschiedenen Posten hin und her und versorgt die Männer mit Essen, Medizin und Munition.
Am zweiten Tag kommen die britischen Truppen mit dem Zug im Zwanzig-Minuten-Takt – alle von ihnen gut trainiert und ausgerüstet. Die Lage für die Rebellen hat sich schon jetzt massiv verschlechtert und in der Folgezeit bricht die Versorgung der zersplitterten Rebellen zusammen, sie hungern auf ihren Dächern, im Post Office beginnen sie schon zu halluzinieren. Sie sehen Gesichter in den Wolken.
Constance ist jetzt als Scharfschützin im Park positioniert. Barrikaden aus Möbeln sollen sie vor den Schüssen aus den umliegenden Gebäuden schützen.
Die meisten Dubliner begrüssen den Aufstand nicht. In ihren Köpfen malten viele farbige und hoffnungsfrohe Bilder einer irischen Republik, aber jetzt, im Kugelhagel, hassen sie die «Shinners», wie sie die Revolutionäre nennen.
Eine Frau wird erschossen, als sie ihre Milchkanne nach Hause trägt. Constance steht auf einem Dach und schaut auf das brennende Dublin. Nach sechs Tagen ist alles vorbei. Eine Krankenschwester eilt mit weisser Flagge zum britischen General. Die Rebellen geben sich geschlagen. 1000 Iren und 500 Briten liegen tot in den Strassen.
400 Shinners werden gefangen genommen. Auch Constance befindet sich darunter. Sie küsst ihren Revolver, bevor sie ihn abgibt. «Ich bin bereit», sagt sie. Die Fahrt zum Gefängnis lehnt sie ab. Sie will mit ihren Brüdern und Schwestern marschieren. «Ob wir gehängt oder erschossen werden?», fragen sie sich auf dem Weg.
Constance wird verschont. Frauen exekutiert man nicht. Und als man ihr die Begnadigung mitteilt, sagt sie nur: «Ich wünschte, sie hätten den Anstand, mich zu erschiessen.» Stattdessen hört sie von ihrem Fenster aus die tödlichen Schüsse im Hof, die 15 ihrer Kameraden gelten. Connolly ist so schwer verletzt, dass er nicht mehr stehen kann. Er wird auf einen Stuhl gebunden, dann erschossen.
250 Zivilisten starben bei der Revolte. Die Stadt liegt in Trümmern. Und nun beginnen die fürchterlichen Vergeltungsmassnahmen der Briten unter General Maxwell, dem öffentlichen Scharfrichter. Bald erreicht er das, was der Aufstand nicht leisten konnte – seine Blutrache beschert der Sinn-Féin-Partei immensen Zulauf; die Iren schlagen sich auf die Seite der Republikaner.
Den Zustand der Matratze, auf der Constance fortan ihre Nächte verbringt, mag sie nicht einmal beschreiben. Die Schöpfkelle fürs Essen teilt sich einen rostigen Topf mit der Klobürste. Die Rebellin magert ab – so sehr, dass ihr die bereits von einer anderen Frau abgetragenen Gefängniskleider nicht mehr passen. Schlampig sei ihr Auftreten, schimpft der Gefängniswärter.
48 ist Constance jetzt, und ihr schönes Gesicht fällt hinter den Gitterstäben langsam in sich zusammen. Manchmal spricht sie mit den Blumen in ihrer Zelle, ihrer einzigen Gesellschaft.
Im Juni 1917 wird Constance im Zuge einer Generalamnestie entlassen. Die Menschen in Dublin säumen die Strassen und jubeln ihrer Madame zu. Sie singen den «Soldier's Song», der später die Hymne der Irischen Republik werden wird.
Das Gefängnis vermochte ihren Kampfgeist nicht zu brechen. Mit ungebrochener Energie reist sie durchs Land, spricht zu den Leuten, versucht, sie für ihre Partei zu gewinnen. Manchmal wird sie von Gegnern der Republik mit Kartoffeln und faulen Eiern beworfen.
Als sie 1918 abermals im Gefängnis sitzt – diesmal wegen ihres angeblichen Bündnisses mit dem Feind Deutschland – schreiben sie ihre Parteikollegen auf die Liste für die generellen Parlamentswahlen. Die Welt hat inzwischen aufgehört, sich zu bekriegen, die Donner der Kanonen sind endlich verhallt. Und im Vereinten Königreich dürfen die Frauen zum ersten Mal wählen. Die Stimmen der Irinnen bescheren Constance einen Wahlsieg.
Doch ihren Sitz im Westminster wird sie nicht einmal anwärmen. Sie wird Arbeitsministerin des irischen Parlaments, dem First Dáil, das sie und ihre Mitkämpfer im Osteraufstand 1916 ausgerufen hatten. Dass es von den Briten sogleich für illegal erklärt wird, kümmert sie nicht. Ministerpräsident ist Éamon de Valera, Michael Collins verantwortet die Finanzen.
Er ist ein Mann der Waffe. Gutaussehend und auf eine raue Weise charmant, aber doch mehr Gangster als Gentleman. Er führt die Irish Republican Army (IRA) an – und sein «Flying Squad», junge brutale Guerillas, arbeiten gezielt an der Dezimierung der britischen Agenten. Collins hat überall seine Spione; im Geheimdienst genauso wie im Castle und sogar unter den britischen Offizieren.
Die Mitglieder des Dáil sind ständig auf der Flucht, doch sie halten ihre Regierungsgeschäfte selbst im Untergrund aufrecht. Heimlich treffen sie sich in Häusern und Büros, flüchten über Dächer und Keller. Constance geniesst die Gefahr. So wie sie einst als junge Frau auf ihrem Pferd den Strand entlangpreschte, jagt sie jetzt mit ihrem Fahrrad durch Dublin:
«Es ist schrecklich komisch, auf der Flucht zu sein. Jedes Haus ist für mich offen und jeder ist bereit, mir zu helfen. Ich rase mit meinem Fahrrad durch die Stadt und es ist zu lustig, den Ausdruck auf den Gesichtern der Polizisten zu sehen, wenn sie mich vorbeizischen sehen.»
Einmal wird ihr Versteck verraten. Constance packt in Windeseile die Regierungspapiere in ihren Koffer. Sie flieht im Taxi, wo ihr nach angestrengtem Grübeln doch noch die rettende Idee kommt: Sie stellt den Koffer ins Schaufenster eines Secondhand-Shops. Der Besitzer ist Sinn-Féin-Anhänger, der nun sein neues Ausstellungsstück mit einem hohen Preis versieht – damit ihn niemand kauft. Sein Laden liegt direkt gegenüber dem Hauptquartier des Feindes.
Die Black and Tans haben sich dort einquartiert. Eine paramilitärische Gruppe von britischen Soldaten, radikalisiert und demoralisiert durch die Schrecken der europäischen Schlachtfelder. Sie rächten sich bitter für die Anschläge der IRA und ihre Vergeltungsschläge galten den Zivilisten. Sie brannten ihre Läden nieder und exekutierten sie auf offener Strasse.
Die Guerilla-Attacken auf beiden Seiten wachsen sich allmählich zu einem richtigen Krieg aus. Überall werden Gebäude, Brücken und Strassen zerstört. Am 21. November 1920 erschiesst Collins Exekutionstruppe 11 britische Agenten. Die Antwort der Briten kommt schnell: Sie ballern während eines Gaelic-Football-Spiels in Dublin in die Zuschauermenge. 12 Menschen sterben, hunderte werden verletzt. Es ist der zweite Blutsonntag der irischen Geschichte.
1921 werden endlich die Waffen niedergelegt. Die Republikaner haben sich Respekt verschafft; die Briten sind nun bereit zu verhandeln. Doch die Sinn Féiner mochten sich in der Schlacht einig sein, jetzt, auf dem politischen Parkett, zeigte sich schnell, dass sie ein bunter Haufen waren, zusammengewürfelt aus bürgerlichen Politikern, intellektuellen Sozialisten und einfachen Waffenbrüdern. Und alle träumten sie in verschiedenen Farben von der neuen Irischen Republik.
De Valera, obwohl der Mann für staatliche Angelegenheiten, schickt Michael Collins zu den Verhandlungen nach London. Wahrscheinlich weiss de Valera, dass die Chance für eine volle Anerkennung der Republik nichts weiter als eine idealistische Träumerei ist. Der Norden will nichts wissen von einem unabhängigen Irland. Dieser Mann will nicht mit einem Kompromiss nach Hause kommen, es hätte einen Schandfleck auf seiner weissen Weste bedeutet. Ein Stein auf dem Weg nach oben.
Und so überlässt er diese schwierige Aufgabe Collins – der sich im Oktober 1921 widerwillig mit dem britischen Premier Lloyd George und dessen Kriegsminister Winston Churchill an den Tisch setzt.
Im Dezember setzt ein gebrochener Collins seine Unterschrift unter den verhängnisvollen anglo-irischen Vertrag. Man drohte ihm bei Verweigerung den sofortigen Krieg an. «Ich habe soeben mein eigenes Todesurteil unterschrieben», sagt er einem Mitglied der britischen Delegation. Er sollte recht behalten.
Die sechs nördlichen Countys Irlands wurden vom Rest Irlands abtrennt. Der neue Irische Freistaat erhielt sein eigenes Parlament und volle Hoheit über seine Innenpolitik, aber verblieb wie Australien und Kanada im British Commonwealth. Die Regierungsmitglieder mussten einen Treueid auf den König leisten und im Kriegsfall die Krone verteidigen.
Es war mehr Autonomie als Irland die letzten hundert Jahre gesehen hatte. Und doch war es zu wenig für die Idealisten. Zu wenig für Constance. Der Vertrag spaltet die Sinn Féiner; 64 stimmen im Dáil dafür, 57 sprechen sich dagegen aus. Collins versöhnliche Worte können den Graben nicht mehr schliessen.
Constance verlässt mit de Valera und den anderen Vertragsgegnern das Parlament, von den Verbliebenen als Verräter beschimpft. Für sie sind es die anderen, die die Ideale von 1916 mit Füssen treten. Constances Worte sind deutlich:
«Ich stehe heute hier, um mit der ganzen Kraft meines Willens, mit der ganzen Kraft meiner Existenz gegen diesen sogenannten Vertrag – dieses ‹Home Rule Gesetz›, das mit dem Zuckerguss eines Vertrages überzogen ist – zu opponieren. Ich bin eine ehrbare Frau und werde lieber sterben, als einen Treueid auf König George oder das britische Empire abzulegen.»
Unnachgiebig bis zum Ende wird diese Frau den Kampf für die Republik weiterkämpfen. Gegen ihre eigenen Brüder zieht sie in die Schlacht. Sie will keine bürgerliche Zwischenlösung, sie will ein freies Irland, ein ideales Irland, ein sozialistisches Irland.
Die Ereignisse von 1916 wiederholen sich. Nur bekriegen sich jetzt die Männer, die sich beim Osteraufstand noch gegenseitig Feuerschutz gaben. De Valera besetzt mit seinen IRA-Truppen die Gerichtsgebäude Dublins. Und Collins wird von Churchill gezwungen, seine Freunde da herauszubomben.
Am 22. August 1922 kehrt Collins von einem Verwandtenbesuch im County Cork heim. Auf einer Landstrasse gerät er in einen Hinterhalt von IRA-Vertragsgegnern. Ein Kopfschuss beendet sein Leben.
Bald darauf gibt sich de Valera geschlagen: «Die Republik kann nicht länger erfolgreich durch eure Waffen verteidigt werden. Weitere Opfer würden jetzt vergeblich sein». Doch waren sie das nicht schon vorher?
Widerwillig legt auch Constance ihr Gewehr nieder.
Am 24. Mai 1923 endet der Bürgerkrieg – und der irische Freistaat wird zur unangefochtenen Tatsache. Constance hasst ihn. Sie hasst seine Trikolore, die grünen Uniformen, all diese Überbleibsel der verratenen republikanischen Idee. Alles scheint ihr unverändert, nur läuft es jetzt unter einem anderen Namen. Und wahrscheinlich behielt sie Recht damit. Diese neue irische Regierung spiegelte im Grunde nur die britische. Verloren war der sozialistische Glanz, den sie und Connolly ihr einst verleihen wollten.
Wie eine aus der Zeit gefallene Heroin schwankt sie durch die letzten Jahre ihres Lebens. Und mit dem Tod ihrer geliebten Schwester Eva beginnt auch der Lebenswille der 58-jährigen Constance zu schwinden.
Am 15. Juli 1927 stirbt die Rebellin. Ihr Ehemann Casimir ist von Polen an ihr Bett geeilt und hat ihr Gesicht ein letztes Mal gemalt. Es wirkt müde.
Ihre Beerdigung ist eines dieser Staatsbegräbnisse, das nicht von oben durchkomponiert, sondern von der ehrlichen und spontanen Liebe der irischen Männer und Frauen getragen wird. Constance war stets auf der Seite der Menschen. Auch wenn ihre Seite manchmal als die falsche erscheinen mochte.